Türkei:"Nie ein antisemitisches Land"

Juden und Türken verbindet eine lange Geschichte: Schon das Osmanische Reich bot den vertriebenen Sepharden Zuflucht.

(SZ vom 17.11.2003) — "Oase des Friedens" heißt "Neve Schalom". 1986 war jene Synagoge im Herzen Istanbuls schon einmal zum Inferno geworden.

Seitdem gab es keinen größeren Anschlag gegen jüdische Einrichtungen in der Türkei, und die etwa 25000 Menschen umfassende jüdische Gemeinde fühlte sich im mehrheitlich muslimischen Istanbul zuletzt nicht stärker bedroht als jüdische Bürger in anderen europäischen Großstädten.

Die Geschichte der Juden in der Türkei reicht 500 Jahre zurück. Es ist eine Geschichte der Rettung. Das katholische Spanien hatte 1492 mehr als 100000 Juden aus Sefarad vertrieben. Das Osmanische Reich nahm die gebildeten "Sepharden" mit offenen Armen auf. "Sein Land lässt er verarmen, und mein Reich bereichert er", wunderte sich Sultan Beyazit II. über den spanischen König.

Die spanischen Juden sprachen Ladino, das man heute wieder am spanischen Kulturinstitut in Istanbul lernen kann. Später flüchteten aschkenasische, Jiddisch sprechende Juden vor Pogromen in Osteuropa zu den Osmanen.

Während der Nazi-Zeit wurde die damals junge Türkische Republik Zuflucht für Juden aus Deutschland. Staatschef Mustafa Kemal Atatürk öffnete sein Land und dessen Universitäten für jüdische Professoren und sozialdemokratische Politiker. Darunter war auch der spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter.

"Die Türkei war nie ein antisemitisches Land", sagt Robert Schild, Autor der in Istanbul erscheinenden jüdischen Wochenzeitung Schalom. Alleine im Altstadtviertel Galata gibt es auch heute noch fünf Synagogen und drei jüdische Schulen, das Oberrabbinat hat hier ebenfalls seinen Sitz. Galata war im 19.Jahrhundert das Zentrum der Banken und der Geschäftswelt.

Hier, im europäischen Herz der Stadt, lebten lange auch die meisten Juden und die christlichen Minderheiten. Später verfiel das Viertel. Orthodoxe Griechen und Armenier wurden Opfer von Vertreibungswellen. Gezielte antisemitische Ausschreitungen aber gab es nicht. Eine 1942 vorübergehend eingeführte Vermögensteuer richtete sich gegen alle Minderheiten, trieb aber auch türkische Juden ins Exil.

Anerkennung des Staates Israel 1948

Einige Juden kehrten später zurück, andere gingen 1948 nach Israel, bauten Siedlungen nahe Tel Aviv und wurden zu einer wichtigen menschlichen Brücke zwischen Israel und der Türkei. Als erstes Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung erkannte die offiziell laizistische Türkei 1948 den neuen Staat Israel an.

Bis heute ist sie das einzige muslimische Land im Nahen Osten, das enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Israel unterhält. 1996 schlossen beide Länder ein Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit; die Geheimdienste kooperieren eng. Die Politik der Regierung Ariel Scharons aber stößt in der türkischen Öffentlichkeit auf Kritik. Offizielle Politik Ankaras ist zudem auch die Forderung nach einem eigenen Palästinenser-Staat.

Für viele Israelis ist die Türkei heute Ferien-Zuflucht in einer sonst wenig freundlichen Region. Zehntausende Israelis genießen alljährlich Sand und Sonne an der türkischen Südküste. Sie schätzten dort bisher das Gefühl der Sicherheit.

Als es am Samstagabend dunkel wurde, tauchten rund um die beiden zerstörten Istanbuler Synagogen jüdische Freiwillige auf, die - wie nach Anschlägen in Israel - kleinste Leichenteile suchten. Die Helfer, die leuchtende Westen über ihre feinen Sabbat-Gewänder gezogen hatten, waren ein ungewohnter Anblick für türkische Beobachter, weil die meisten Juden der Stadt, selbst wenn sie keinen Antisemitismus fürchten, sonst lieber unerkannt bleiben.

Nessli Varol, eine 23-Jährige, die sofort aus Israel anreiste, als sie gehört hatte, dass ihr Onkel in der Beit-Israel-Synagoge von Sisli getötet worden war, sagte einem Reporter: "Die Juden haben hier ein gutes Leben. Sie sind wohlhabend, aber sie wollen nicht auffallen. Wenn ich als Kind meine Großmutter in Istanbul besuchte, sagte sie ihren muslimischen Freunden, ich käme aus Frankreich, nicht aus Israel."

Dass sich gute Beziehungen auch verschlechtern können, wenn Angst ins Spiel kommt, zeigen erste spontane Reaktionen in der Straße des Todes. Ein Ladenbesitzer sagte nach dem Anschlag am Wochenende, die Synagoge solle aus der belebten Ecke "vielleicht wegziehen". Ein anderer meinte: "Israel bekommt nur das, was den Palästinensern angetan wird."

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