Türkei:So würde die neue türkische Verfassung aussehen

Türkische Volksabstimmung in Hessen

Auch Türken in Deutschland - hier in Frankfurt am Main - sind dazu aufgerufen, über die umstrittenen Verfassungspläne abzustimmen.

(Foto: dpa)
  • In einem Referendum sollen die Türken über die Umwandlung ihres Landes in ein Präsidialsystem abstimmen.
  • Ein Präsidialsystem ist nicht grundsätzlich schlecht. Die neue türkische Verfassung würde dem Präsidenten aber sehr viel Macht einräumen.

Von Mike Szymanski, Ankara

Die Türkei steht am 16. April vor einer weitreichenden Entscheidung. Die Bürger sind aufgerufen, in einem Referendum über die künftige Machtfülle des Staatspräsidenten zu entscheiden. Recep Tayyip Erdoğan will per Verfassungsänderung den Wechsel zum Präsidialsystem durchsetzen. Dies würde mehr Macht in seinen Händen konzentrieren, er würde Chef der Exekutive werden.

Erdoğan verspricht dem Land "Sicherheit und Stabilität". Die Opposition fürchtet die Alleinherrschaft des Präsidenten, sollte er sich am 16. April durchsetzen. Die Süddeutsche Zeitung gibt einen Überblick über die geplante Reform.

Die heutige Verfassung

Die jetzige Verfassung wurde nach einem Putsch von der damaligen Militärregierung geschrieben und 1982 in einem Referendum mit großer Mehrheit angenommen. Seither wurde das Grundgesetz etwa 20-mal verändert, zwei Drittel ihrer 177 Artikel sind neu gefasst worden. Alle Parteien im Parlament halten eine weitere Reform für nötig. Bei den Zielen gehen jedoch die Ansichten auseinander.

Die Umstände des Referendums

Nach dem Putschversuch im Sommer 2016 hat die Regierung den Ausnahmezustand verhängt. Freiheitsrechte sind stark eingeschränkt. Trotz anderslautender Erklärungen der Regierung findet der Wahlkampf also im Ausnahmezustand statt. Die Regierung hat die Aufarbeitung des Putschversuchs und anhaltende Terrorattacken als Begründung herangezogen, Dutzende Medienhäuser zu schließen. Der regierungskritischen Presse hat sie damit einen heftigen Schlag versetzt. Die Vorsitzenden und weitere Abgeordnete der Oppositionspartei HDP - Gegner eines Systemwechsels - sitzen in Haft.

Was ist besser, parlamentarische Demokratie oder Präsidialsystem?

Das Präsidialsystem ist weit verbreitet auf der Welt. Es hat nicht nur Nachteile. In den Vereinigten Staaten von Amerika oder in Frankreich genügt es hohen demokratischen Standards. Politikwissenschaftler vertreten allerdings die Ansicht, dass das Präsidialsystem Länder womöglich anfälliger mache, in autoritäre Systeme abzurutschen. Diese Gefahr besteht jedenfalls, wenn das System der gegenseitigen Kontrolle, der sogenannten Checks and Balances, nicht richtig funktioniere und die Gewaltenteilung aufgehoben werde.

Der Präsident und die Partei

Das türkische Justizministerium betont in einer Ausführung zur Verfassungsreform, mit ihr werde die Gewaltenteilung in der Türkei gestärkt. Zuständigkeiten von Präsident und Parlament würden klarer beschrieben. Das erfährt jedoch dadurch eine Einschränkung, dass der Staatspräsident im Fall der Verfassungsänderung wieder Mitglied einer Partei sein und in ihr Ämter bis hoch zum Vorsitz übernehmen kann.

Laut der jetzigen Verfassung muss der Staatspräsident nach seiner Wahl die Beziehung zu seiner Partei abbrechen. Dieser Artikel soll gestrichen werden. Kritiker wenden ein, dass die Macht des Staatspräsidenten über alle Maßen wächst, wenn er auch noch an der Spitze einer politischen Partei steht.

Bei fast allen türkischen Parteien ist die innerparteiliche Demokratie nicht sehr ausgeprägt. Der Chef bestimmt, auf alle wichtigen Personalentscheidungen hat er Einfluss. Dazu zählt dann auch, wer für die Partei als Parlamentskandidat bei Wahlen aufgestellt wird. Das heißt: Der Präsident würde künftig starken Einfluss auf das Parlament und seine Zusammensetzung nehmen können.

Im Regelfall dürfte die Partei des Präsidenten auch die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament stellen. Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sollen im neuen System zur gleichen Zeit stattfinden. Die Macht des Präsidenten reicht also über seine Funktion als Parteichef weit in die Legislative hinein.

Die Rechte des Parlaments

Personell würde die Reform die Große Nationalversammlung stärken. Statt 550 Abgeordnete sollen ihr künftig 600 Parlamentarier angehören. In Artikel 87 soll aber der Satz gestrichen werden, dass es zu den Aufgaben des Parlaments gehöre, die "Minister zu kontrollieren". Parlamentarische Anfragen sind künftig nur noch schriftlich möglich und können nur an die Vize-Präsidenten sowie die Minister gerichtet werden. Die Minister müssen nicht mehr durch das Parlament bestätigt werden. Der türkische Präsident "ernennt und entlässt" seine Stellvertreter und die Minister, heißt es in der Neufassung von Artikel 104.

Die Gesetzgebungskraft liegt noch beim Parlament. Allerdings kann der Staatspräsident Dekrete zu Angelegenheiten erlassen, die in seinen Kompetenzbereich fallen. Der wäre laut neuer Verfassung breit angelegt. Auch der US-Präsident hat das Recht, Dekrete zu erlassen. Donald Trump hat in den ersten Wochen seiner Amtszeit rege davon Gebrauch gemacht. Allerdings schätzen Verfassungsexperten, dass der Spielraum bei Dekreten im neuen türkischen System größer sein werde als jetzt in den USA.

Die Verfassung regelt, dass im Streitfall mit dem Parlament Gesetze über Dekreten stehen. Anderseits fällt dem Präsidenten mit der Verfassungsänderung ein Vetorecht zu. Dieses kann das Parlament künftig mit absoluter Mehrheit ihrer Gesamtmitglieder überwinden.

Die Verantwortung des Präsidenten

Die Reform-Verfechter argumentieren, dass der Staatspräsident angesichts seiner heute schon nicht unerheblichen Machtfülle praktisch nicht zur Verantwortung gezogen werden könne - außer für den Vorwurf des Hochverrats. Dies solle mit der neuen Verfassung korrigiert werden. Im Entwurf heißt es unter Artikel 105, gegen den Präsidenten könne wegen des "Vorwurfs der Begehung einer Straftat" ermittelt werden. Für die Einleitung eines Strafverfahrens braucht es eine Dreifünftelmehrheit im Parlament.

Aber das ist nicht die einzige Hürde. Das Verfahren ist langwierig. Sollte ein Vorwurf überhaupt beim Verfassungsgericht zur Verhandlung landen, haben die Richter maximal ein halbes Jahr Zeit, zu einer Entscheidung zu kommen. Bei der Besetzung höchster Richterstellen redet der Staatspräsident direkt und indirekt mit. Das Amtsenthebungsverfahren ist ein extremes Instrument, die Hürden sind daher auch in anderen Ländern ziemlich hoch.

In den Vereinigten Staaten von Amerika haben die Bürger bei den Zwischenwahlen zum Kongress, den sogenannten Mid-Terms, indirekt die Möglichkeit, auch über die Politik des Präsidenten abzustimmen und die Kräfteverhältnisse im Parlament neu zu justieren. In der Türkei wird künftig alle fünf Jahre gewählt.

Die Richter

Präsidialsysteme sind nach Meinung von Politikwissenschaftlern auf eine unabhängige und starke Justiz angewiesen. Dies hat der Streit um die Einreisedekrete von US-Präsident Donald Trump in den USA gezeigt. Es waren Richter, die Trump in dieser umstrittenen Frage zunächst stoppten.

Per Reform will die türkische Regierung festschreiben, dass die Gerichte nicht nur unabhängig, sondern ausdrücklich auch "unparteiisch" seien, wie es in Artikel 9 der neuen Verfassung heißen soll. Allerdings würde der Präsident seinen Einfluss auf die Justiz mit der Reform ausbauen können. Von künftig 13 Mitgliedern des mächtigen Rats der Richter und Staatsanwälte bestimmt er direkt vier. Hinzu kommen der Justizminister und der Staatssekretär, die qua Amt Mitglieder des Rates sind, und über die der Präsident ebenfalls bestimmt.

Über die verbleibenden sieben Mitglieder entscheidet das Parlament mit einer qualifizierten Mehrheit. Im Parlament aber würde die Partei des Präsidenten mit hoher Wahrscheinlichkeit die Mehrheit der Abgeordneten stellen. Der Rat der Richter und Staatsanwälte spielt bei der Besetzung bedeutender Gerichte eine wichtige Rolle.

Im Schatten des Präsidenten: seine Stellvertreter und die Minister

Wie viele Stellvertreter der Präsident hat, wie viele Minister er beruft, all das bestimmt er künftig allein. Er ernennt und feuert auch alle hohen Staatsbeamten. Geregelt ist das unter Artikel 104, der seine Kompetenzen beschreibt. Anders als in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo das Volk mit dem Präsidenten auch den Vize wählt, kann dem Erdoğan-Stellvertreter ganz ohne Wahl große Macht zufallen. In Artikel 106 der Verfassung heißt es, im Krankheitsfall des Staatschefs übe der Stellvertreter "die Kompetenzen des Präsidenten" aus. Er wäre demnach Oberbefehlshaber der Streitkräfte, könnte den Notstand ausrufen und mit Dekreten regieren.

Im jetzigen System vertritt in solchen Fällen der Parlamentspräsident das Staatsoberhaupt. Wozu das neue System führen könne, hat jüngst die türkische Presse mit einem Beispiel aus dem Ausland aufgezeigt. Der Präsident von Aserbaidschan hat per Dekret seine Frau zur Ersten Vizepräsidentin ernannt. Dies zeige, wie das Land in die Hände einer Dynastie fallen könne, schrieb die Presse. Die Vizepräsidenten und die Minister sollen parlamentarische Immunität genießen.

Amtszeiten und Ausnahmen

Artikel 101 legt fest, dass die Amtszeit des Staatspräsidenten fünf Jahre beträgt. Weiter heißt es: Jedermann "darf höchstens zweimal zum Präsidenten gewählt werden". Allerdings sieht das Grundgesetz in seiner geplanten Fassung auch eine Ausnahme vor. Artikel 116 regelt den Fall, dass das Parlament Neuwahlen auslöst. Parlamentswahlen und Präsidentschaftswahlen sind aneinander gekoppelt. Sie sollen laut neuer Verfassung immer am gleichen Tag stattfinden.

Egal ob der Präsident oder das Parlament Neuwahlen erzwingt: Die Entscheidung trifft beide. Geschieht das in der zweiten Amtszeit des Präsidenten und auf Beschluss des Parlaments, "kann der Präsident der Republik ein weiteres Mal kandidieren". Der Präsident hat also eine Chance auf Verlängerung.

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