Türkei:Keine Angst vor der Visafreiheit für die Türkei

Die EU-Kommission hat Vorschläge unterbreitet, wie die Visafreiheit für die Türkei umgesetzt werden kann. Das ist ein Erfolg für die Türkei. Und für die EU.

Kommentar von Thorsten Denkler, Berlin

Es wäre leicht, die Kritik an der kommenden Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger mit einem schlichten englischen Satz abzubügeln: Deal is Deal, Geschäft ist Geschäft. Die türkische Regierung hat in den Verhandlungen mit Kanzlerin Angela Merkel und der EU über die Flüchtlingsfrage die Visafreiheit für ihre Bürger herausgehandelt. Merkel und die EU-Vertreter haben eingeschlagen.

Im Gegenzug bekommt die Türkei viel Geld, um die Flüchtlingslager im Land in einen halbwegs menschenwürdigen Zustand zu versetzen. Und das Land nimmt Flüchtlinge zurück, die von der Türkei aus nach Griechenland übergesetzt haben. Und die EU verpflichtet sich in gleicher Zahl, Flüchtlingen in der Türkei die legale Einreise in die EU zu ermöglichen, wenn diese eine Bleibeperspektive in der EU haben.

Niemand muss diesen Deal richtig finden. Aber er hat - in Kombination mit der eigenmächtigen Schließung der Balkanroute - dazu geführt, dass deutlich weniger Flüchtlinge in die EU kommen. Im April sind über die Türkei noch 3500 Flüchtlinge in Griechenland angelandet. Im März waren es 27 000. Und: Im April ist erstmals seit langem kein Flüchtling mehr auf der Überfahrt von der Türkei auf eine griechische Insel ums Leben gekommen.

An diesem Mittwoch hat die EU-Kommission ihre Vorschläge für die neue Visa-Freiheit unter Vorbehalt beschlossen. Erst wenn alle Bedingungen erfüllt seien, könne die Regelung im Juni in Kraft treten. Der Europäische Rat der EU-Regierungschefs und das EU-Parlament müssen noch zustimmen.

Jetzt ist ein Streit entbrannt, ob die Visafreiheit für Türken wirklich eine so gute Idee war. Der Streit wird vor allem von jenen konservativen Kräften befeuert, die gar nicht genug applaudieren konnten, als Mazedonien auf Geheiß einiger weniger EU-Staaten im Osten die Grenze zu Griechenland dichtgemacht hat. Der Türkei-Deal ist zudem ziemlich erfolgreich. Zumindest im Sinne derer, die glauben, das christliche Abendland sei durch den Zuzug von ein paar Millionen Flüchtlingen in eine EU mit 510 Millionen Einwohnern bedroht.

Nicht alle Türken sind wie Erdoğan

Nach der Angst vor den Flüchtlingen kommt jetzt also die Angst vor den Türken. Natürlich, dem "Irren vom Bosporus", wie der Satiriker Martin Sonneborn den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan durchaus treffend beschrieb, ist nicht für fünf Pfenning zu trauen. Aber nicht alle Türken sind wie Erdoğan. Und denen wird die Einreise über Gebühr schwergemacht.

Vermutlich ist es leichter für einen Türken ohne Deutschkenntnisse, eine deutsche Steuerklärung auszufüllen als ein Visum für den Schengen-Raum zu bekommen. Für ein einfaches Touristen-Visum Typ C braucht es Kontoauszüge der vergangenen drei Monate, die die finanzielle Lage offenlegen.

Es braucht Nachweise über Immobilienbesitz, eine Bescheinigung über eine Auslandskrankenversicherung mit einer Deckungssumme von mindestens 30 000 Euro. Dazu Rückflugtickets, am besten eine persönliche Einladung, die wiederum an hohe Auflagen bis hin zu Kautionen von mehreren tausend Euro gebunden sind. Desweiteren: Kopien des Inlandspasses und des Reisepasses. Natürlich auch zwei farbige Passbilder vor hellem Hintergrund, Nachweise über die Reiseroute sowie Nachweise über die Unterkunft.

Und vor allem braucht es: sehr viel Geduld. Drei Monate vor Reiseantritt sollte das Visa-Verfahren angegangen werden. Ohne Garantie, dass es auch klappt. Selbst wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind. Ungezählt sind die Hochzeiten und Beerdigungen, an denen die nahen Verwandten aus der Türkei nicht teilnehmen konnten, weil sie kein Visum bekommen haben.

Erstaunlich genug, wie viele Türken diese Prozedur dennoch über sich ergehen lassen. An den deutschen Konsulaten in Istanbul, Ankara und Izmir wurden im vergangenen Jahr über 200 000 Schengen-Visa ausgeben. Die Ablehnungsrate betrug zehn bis 20 Prozent.

Hammerharter Bremsklotz für die Wirtschaftsbeziehungen

Für die Wirtschaft ist das ein hammerharter Bremsklotz. Deutschland ist für die Türkei der wichtigste Handelspartner. Das Handelsvolumen liegt bei deutlich über 30 Milliarden Euro. Etwa 82 000 türkischstämmige Unternehmer beschäftigen gut 450 000 Mitarbeiter in Deutschland. Sie erwirtschaften einen Jahresumsatz von rund 45 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die deutschen Automobilhersteller beschäftigten knapp 400 000 Menschen.

Wenn aber türkische Unternehmer oder Mitarbeiter schon Schwierigkeiten haben, die wichtigen Messen in Deutschland zu besuchen, ist das nicht gerade ein Förderprogramm. Nicht auszudenken, wie die Wirtschaftsbeziehungen wachsen würden, wenn die Menschen, die diese Beziehungen knüpfen müssen, ungehindert reisen könnten.

Die Sorge besteht nun darin, dass viele Türken Visa-frei einreisen, aber nicht in ihre Heimat zurückkehren. Wirtschaftlich gibt es dafür immer weniger Gründe. Die Türkei steht nicht schlechter da als etwa die EU-Mitgliedsländer Bulgarien und Rumänien.

Auch ob etwa türkische Kurden vermehrt die Chance nutzen, in der EU einen Asylantrag zu stellen, müsste sich noch zeigen. Das hängt stark davon ab, wie schnell Erdoğan den Militäreinsatz in den Kurdengebieten seines Landes wieder stoppt.

Für diese Fälle hat die EU-Kommission Sicherheitsmechanismen eingebaut. Die Einreiseregeln können immer noch verschärft werden, sollten etwa zu viele Türken die Visa-Freiheit als Tür für eine dauerhafte Immigration nutzen. Oder deutlich mehr Asyl-Anträge von türkischen Staatsbürgern gestellt werden.

Nachvollziehbar, dass die Türkei in der Visa-Frage jetzt Druck macht

Außerdem hat die EU-Kommission 72 Kriterien definiert, die die Türkei erfüllen muss. Es geht um Dokumentensicherheit, biometrische Pässe, Migrationsfragen, öffentliche Ordnung und Sicherheit, Grundrechte in der Türkei sowie die Rücknahme irregulärer Migranten.

67 dieser Kriterien scheinen inzwischen erfüllt zu sein, darunter auch die visafreie Einreise für alle EU-Bürger in die Türkei. Noch offen sind Fragen des Umgangs der Türkei mit vermeintlichen Terroristen oder der Pressefreiheit. Diese Fragen sollen gelöst werden, bevor im Juni die Visafreiheit in Kraft tritt. Ob es so schnell geht, ist allerdings ungewiss. Das EU-Parlament und die Mitgliedsstaaten der EU werden im kommenden Zustimmungsverfahren sicher noch den ein oder anderen Punkt in Ankara zur Klärung vorlegen.

Mit dem Deal wird übrigens die Visafreiheit nur vorgezogen. Verhandelt wird darüber seit längerem. Im kommenden Jahr hätten die Verhandlungen zum Abschluss gebracht werden sollen. Die türkische Regierung hat in der Flüchtlingsfrage lediglich die Gunst der Stunde erkannt und kann womöglich früher als gedacht einen Haken unter die Visafreiheit machen.

Ein kluger Schachzug. Die Türkei ist seit 1999 Beitrittskandidat, seit 17 Jahren also. Da ist es nachvollziehbar, dass sie in der Visa-Frage jetzt Druck macht.

Der Deal ist ein Erfolg für Ankara. Und tatsächlich auch einer für die Europäische Union. Wer will, dass sich Türkei und die EU näherkommen, der muss die Menschen reisen lassen.

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