Türkei:Kandidat aus dem Knast

Selahattin Demirtas HDP Türkei Wahlen

Selahattin Demirtaş ist seit November 2016 in Haft. Trotzdem könnte seine Partei, die HDP, laut Umfragen die Zehn-Prozent-Hürde überwinden.

(Foto: Osman Orsal/Reuters)
  • In der Türkei finden am 24. Juni die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt.
  • Selahattin Demirtaş, der seit anderthalb Jahren in Haft ist, könnte mit seiner prokurdischen HDP zum Problem für Präsident Erdoğan werden.
  • Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich die Oppositionsparteien auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen.

Von Luisa Seeling

Eine "leuchtende Zukunft" versprechen sie, nun ja. Wie leuchtend kann die Zukunft einer Partei sein, wenn der Kandidat, den sie ins Rennen um das Präsidentenamt schickt, seit anderthalb Jahren im Gefängnis sitzt? Die Ausgangslage der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ist suboptimal, um es vorsichtig zu sagen. Trotzdem geht es für die prokurdische Partei in den türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni um mehr als nur einen Achtungserfolg. Am Ende könnte die HDP sogar den Ausschlag geben. Dazu aber muss sie ihren Anhängern das Gefühl vermitteln, dass ihr Kandidat aus der Zelle ebenso gut wahlkämpfen kann wie in Freiheit. Und so beschwören die HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Sezai Temelli also eine "leuchtende Zukunft" - jetzt, da der ehemalige Parteichef Selahattin Demirtaş gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan antrete. An diesem Freitag soll seine Kandidatur offiziell verkündet werden.

Tatsächlich gibt es in der HDP niemanden, der sich so sehr als Hoffnungsträger eignet wie Demirtaş. Im Februar sah das noch anders aus: Da hatte der 45-Jährige den Parteivorsitz abgegeben und erklärt, er wolle die Politik ruhen lassen, solange er im Gefängnis sitze. Verhaftet wurde er im November 2016, gegen ihn laufen mehrere Verfahren wegen Terrorvorwürfen, ihm drohen bis zu 142 Jahre Haft. Doch seine Popularität ist ungebrochen, und die kurdischen Stimmen fallen ins Gewicht; laut Schätzungen sind etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung Kurden. Auch wenn nicht alle von ihnen HDP wählen, etwa weil ihnen die Partei zu links ist: Demirtaş' Kandidatur könnte zum Problem für Erdoğan werden, trotz des Gefängnis-Handicaps.

Die Opposition in der Türkei ist sich uneinig, was einen gemeinsamen Kandidaten betrifft.

Schon einmal hat sich Demirtaş dem Präsidenten und seiner regierenden AKP in den Weg gestellt. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 begeisterte die HDP als linksliberale Kraft weit über ihre kurdische Kernwählerschaft hinaus. Mit 13,1 Prozent zog sie ins Parlament ein, die AKP verlor vorübergehend ihre absolute Mehrheit. Ein Triumph, mit dem sich die Partei Erdoğans Zorn zuzog. Die HDP geriet im Kurdenkonflikt zwischen die Fronten und ins Visier der Justiz. Heute sitzen Tausende Funktionäre in Haft. Und doch: Sollte die HDP wieder die Zehnprozenthürde überwinden und ins Parlament einziehen, worauf jüngste Umfragen hindeuten, würde das dazu beitragen, die AKP-Mehrheit zu gefährden. Und: Kommt es zur Stichwahl um das Präsidentenamt, könnte Demirtaş seinen Wählern empfehlen, im zweiten Durchlauf für den verbliebenen Erdoğan-Herausforderer zu stimmen.

Auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten konnte sich die Opposition nicht einigen. Der heiß gehandelte ExStaatspräsident Abdullah Gül sagte am Wochenende, er werde nicht antreten; er begründete dies mit der Uneinigkeit der Opposition, es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass er unter Druck gesetzt wurde. Für die rechtskonservative Iyi-Partei tritt die frühere Innenministerin Meral Akşener an, die bei Kurden wegen ihres nationalistischen Kurses in den Neunzigerjahren wenig beliebt ist. Unklar war zunächst, wen die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP, nominiert: Ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu hatte angedeutet, nicht antreten zu wollen, seither kursieren Namen wie der von Ex-Vizepremier Abdüllatif Şener, einem AKP-Mitgründer, der schon vor Jahren mit Erdoğan gebrochen hat. An diesem Freitag will die CHP enthüllen, wen sie aufstellt.

Für die Parlamentswahl hingegen haben sich vier Oppositionsparteien zusammengeschlossen: Medienberichten zufolge gehören dem Bündnis CHP, Iyi-Partei sowie die islamische Kleinpartei Saadet und die konservative Demokratische Partei an. Ein neues Wahlgesetz erlaubt es Parteien, die Zehnprozenthürde im Block zu überwinden. Sollte die Vierer-Allianz ein gutes Ergebnis einfahren und die HDP ins Parlament kommen, wäre die Mehrheit der AKP in Gefahr. Die HDP muss den Sprung aber aus eigener Kraft schaffen, sie gehört dem Bündnis nicht an - offenbar war das Misstrauen vor allem der Iyi-Partei gegenüber den Kurden zu groß.

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