Türkei:Wo Leichen angespült werden

People take pictures as the body of a migrant lies on the shore in the Aegean coastal town of Ayvalik, Turkey

Leute machen Foto von der Leiche eines Flüchtling, die am Strand des türkischen Orts Ayvalık liegt.

(Foto: REUTERS)

Zurückgelassene Fotos, falsche Angler und immer wieder leblose Körper: Am Strand des türkischen Küstenorts Ayvalık zeigt sich, dass das Geschäft der Schleuser weiter brummt.

Eine Reportage von Mike Szymanski, Ayvalık

Der Strand hat ein paar Erinnerungen freigegeben. Erinnerungen an glückliche Momente, wenn man richtig in diesen Gesichtern liest. Dieses Foto zum Beispiel: Der Bräutigam packt seine hübsche Frau an der Taille. Sie himmelt ihn an. Beide schauen so verliebt, so unbekümmert. Wie haben sie sich wohl die Zukunft vorgestellt?

Jetzt steht man hier am Strand von Ayvalık, an der Seite von Hüsnü Evren, und hat eigentlich nur einen Wunsch: ihnen das Bild zurückzugeben. Aber sie sind nicht mehr da.

Dutzende Fotos liegen am Strand. Die Schleuser haben den Leuten eingeredet, sie müssten alles zurücklassen, was Rückschlüsse auf ihre Person zulasse. Hüsnü Evren kennt die Tricks der Schleuser. Er hat sie oft genug beobachtet, bei Tag und bei Nacht. Sie haben auf ihn geschossen. Sie haben ihn verjagt.

Es sind nur ein paar Kilometer bis nach Griechenland. Man kann Lesbos sehen. Auf den letzten Metern soll niemand das verlogene Geschäft kaputt machen. 40 Minuten, erzählen die Schleuser den Flüchtlingen. Dabei sind es vier Stunden - wenn die Boote überhaupt ankommen.

Hüsnü Evren ist ungewollt Chronist dieser Tragödie geworden. Er ist Journalist und lebt in der Nähe des Strands. Wenn er ans Wasser geht, dann schon lange nicht mehr, um das Meer zu bewundern. Er hasst es, weil es in jedem Moment wieder einen Toten ausspucken könnte und er mit seiner Kamera los muss. Seit Monaten geht das so. Und es nimmt kein Ende. Er ist 65 Jahre alt. Er dachte, er hätte genug erlebt. Dann kam der 5. Januar. An diesem Tag war das Meer besonders grausam und legte ihm acht Leichname vor die Füße. Am Ende waren es mehr als 30 tote Körper. Ein paar halten die Fluten immer noch zurück. Auf dem Boot, das kenterte, sollen fast 60 Menschen gewesen sein.

Der 5. Januar 2016, das war auch der Tag, an dem eine Hoffnung unterging: Ei-nen Monat zuvor hatte die türkische Regierung der EU zugesichert, die Grenzen besser zu schützen, gegen Schleuser härter vorzugehen. Auch die EU - angetrieben von Kanzlerin Angela Merkel - hat Versprechungen gemacht. Drei Milliarden Euro soll die Türkei für die Flüchtlingshilfe erhalten. Die Gespräche über den Beitritt der Türkei zur EU werden wiederbelebt. Außerdem sollen die Türken visafrei reisen können. An diesem Freitag reist Premier Ahmet Davutoğlu zu deutsch-türkischen Regierungskonsultationen nach Berlin. Natürlich geht es bei dem Treffen um diesen Deal, den manche Politiker für einen schmutzigen halten, weil man die Türkei damit beauftragt, Europa die Probleme vom Hals zu schaffen.

Am Strand von Ayvalık steht Hüsnü Evren und sagt: "Nichts hat sich geändert. Es wird weiter gestorben." Wenn die Behörden wirklich wollten, würde es nicht einmal ein Vogel rüberschaffen nach Griechenland.

Kurz nach der Vereinbarung verhaftete die Polizei Dutzende Schleuser und holte Hunderte Flüchtlinge ins Landesinnere zurück. Aber je mehr Zeit verstreicht, desto weniger passiert. Noch immer erreichen im Schnitt 1700 Flüchtlinge am Tag Griechenlands Ufer. Das sind weniger als im Sommer, als die Zahl um ein Vielfaches höher lag. Aber der Rückgang - das ist auch die Einschätzung in Berlin und Brüssel - geht allein auf das Winterwetter zurück.

Türkei: Spuren im Sand: Wer es von der türkischen Küste auf die Ägäis-Insel Lesbos geschafft hat, lässt seine Schwimmweste zurück.

Spuren im Sand: Wer es von der türkischen Küste auf die Ägäis-Insel Lesbos geschafft hat, lässt seine Schwimmweste zurück.

(Foto: Santi Palacios/AP)

Namık Kemal Nazlı ist Landrat von Ayvalık. In seine Zuständigkeit fallen 50 Küstenkilometer. Er sieht es wie Premier Davutoğlu: Niemand könne von der Türkei verlangen, das Land in ein Gefängnis zu verwandeln. "Wir unternehmen von hier aus alles, damit die Flüchtlinge nicht übersetzen. Aber unsere Macht ist begrenzt." Wenn er sein Personal an Land für den Küstenschutz in eine Reihe stellen würde, dann wäre die vielleicht 200 Meter lang, sagt er. Trotzdem hätten sie 2015 etwa 150 Schleuser festgenommen. Mehr Personal habe er seit dem Deal mit der EU nicht erhalten. Er sieht darin auch kein Versäumnis der türkischen Regierung, denn Europa habe ja bisher auch noch keinen einzigen Euro der drei Milliarden überwiesen. Dass die Flüchtlingskrise bald endet, glaubt Landrat Nazlı nicht. "Solange der Krieg in Syrien anhält, die Menschen Hoffnung haben auf ein besseres Leben in Europa und wir die Gier der Schleuser nicht brechen, geht die Krise weiter."

"Was die Integration angeht, steht die Türkei noch ganz am Anfang"

Die Frage ist nur, ob die Türkei tatsächlich alles tut, was in ihrer Macht steht. Etwa 2,2 Millionen syrische Flüchtlinge beherbergt die Türkei heute. Etwa 4,6 Millionen Euro gibt sie jeden Tag aus. Aber sie gab ihnen bisher keine Bleibeperspektive. "Was die Integration angeht, steht die Türkei nach ganz am Anfang", sagt Esra Şimşer von der Hilfsorganisation Asam in Izmir. Nicht einmal 8000 Syrern wurde bisher eine Arbeitserlaubnis erteilt. Zumindest das soll sich jetzt ändern. "Das ist ein großer Schritt, damit Flüchtlinge auch in der Türkei bleiben."

Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge muss mit weniger als 250 Dollar im Monat auskommen - weniger als der Mindestlohn. Außerhalb der Flüchtlingslager hat nur jedes vierte Kind Zugang zu einer Schule. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge sind minderjährig, 150 000 Kinder wurden in der Türkei geboren. Es wächst eine Generation heran, die leicht Radikalen in die Hände fallen könnte, wenn die AKP-Regierung sie nicht integriert.

Lange war der Türkei egal, was aus den Flüchtlingen wird. Das Land hat nicht wahrhaben wollen, was da auf es zukommt. Davutoğlu sagte im Sommer 2012, bei 100 000 Flüchtlingen müsse Schluss sein. So viel zu Obergrenzen.

Die Schlepper seien bewaffnet, sagt Hüsnü Evren. Später zeigt er Patronenhülsen im Sand

Hüsnü Evren zeigt auf zwei Motorräder, die verlassen in der Landschaft stehen. "Die gehören den Spähern", sagt er. Sie warnen die Schleuser vor Eindringlingen am Strand. Die Schleuser kundschaften schon aus, wann wieder ein guter Zeitpunkt ist, um Flüchtlinge auf die Reise zu schicken. Nichts ist hier, wie es zu sein scheint. Die beiden Angler, auf die Evren zeigt? Sie sind mit einem Kleinbus an den Strand gefahren, das Kennzeichen verrät, dass sie aus Izmir kommen. Fährt wirklich jemand zwei Stunden, um hier zu angeln? Evren sagt: grüßen und weitergehen. Die Schleuser seien bewaffnet. Später zeigt er Patronenhülsen im Sand.

Die Grundbesitzer bekämen für jeden Flüchtling etwas bezahlt, erzählt auch die Kioskverkäuferin, die morgens, wenn sie um kurz vor sieben Uhr ihren Laden aufsperrt, erst die Motorräder und dann die Busse mit den Flüchtlingen zum Strand fahren sieht. "Alle verdienen mit", sagt sie. Die Bauern, die Schmiere stehen. Händler, die versprechen, Boote aufzutreiben und dann nie wiederkommen.

Wenn bei ihr morgens kurz nach Sonnenaufgang Frauen und Kindern mit nasser Kleidung im Laden stehen, dann weiß sie, dass es wieder ein Boot nicht hinübergeschafft hat.

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