Türkei: Gewalt gegen Frauen:Willkommene Ohrfeige

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Türkei verurteilt, weil sie eine Frau und ihre Mutter nicht vor der Gewalt des Ehemannes beschützt hat. Und das Land jubelt.

Kai Strittmatter

Das Urteil an sich ist schon erstaunlich genug: Ein Staat - die Türkei - wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt, weil er eine Frau und ihre Mutter nicht vor der Gewalt des Ehemannes beschützt hat. Erstaunlicher aber sind die Reaktionen in diesem Land, das oft so zornig reagiert auf alles, was es als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten empfindet, vor allem, wenn diese seine dunklen Seiten zum Ziel hat: Der Straßburger Beschluss stößt auf Beifall quer durch die Lager. "Eine Lektion für den Respekt vor Frauen" nannte es das Boulevardblatt Hürriyet am Donnerstag, von einer verdienten "schallenden Ohrfeige" schrieb die regierungsnahe Zeitung Yeni Safak.

In der Türkei reagierte man positiv auf den Spruch aus Straßburg. (Foto: Foto: dpa)

Das Urteil und der traurige Fall der Familie Opuz, der ihm zugrunde liegt, haben in der Türkei eine neue Debatte ausgelöst über Männergewalt. Und über eine Polizei und Justiz, die solche Gewalt auch nach vorbildlichen Gesetzesreformen noch immer viel zu oft tolerieren. Klägerin war die heute 37-jährige Nahide Opuz aus Diyarbakir. Ihr Mann hatte sie über Jahre hinweg verprügelt, später mit dem Messer verletzt, dann sie und ihre Mutter mit dem Auto angefahren - und jedes Mal, wenn seine Frau ihn angezeigt hatte, ließ ihn die Justiz mit einer Geldstrafe wieder laufen. Als Ehefrau und Mutter schließlich im Jahr 2002 in eine andere Stadt fliehen wollten, da erschoss der Mann die Mutter.

Historisches Urteil

Die Straßburger Richter verurteilten den Staat nun dazu, der Frau 36.500 Euro zu bezahlen, weil er seine Schutzpflicht grob vernachlässigt habe. Das Urteil wird in der türkischen Presse als historisch bewertet, weil es in seiner Begründung über den Einzelfall hinaus eine "Kultur der Gewalt" benennt, die oft toleriert werde. Das Gericht berief sich auf Berichte von Frauengruppen wie Mor Cati, die belegen, wie Polizisten vielerorts Anzeigen misshandelter Frauen nicht ernst nehmen, und wie manche Richter noch immer prügelnden und mordenden Männer Straferlass gewähren, wenn sie die "Familienehre" verteidigt sehen.

Die Zeitung Sabah zählte auf, wie die Richter in der Stadt Diyarbakir über Jahre hinweg in 46 von 59 Fällen häuslicher Gewalt die Strafe reduzierten - auch nach Verabschiedung des Strafgesetzbuches von 2004, das seiner modernen Frauengesetzgebung wegen von der EU viel gelobt wurde. Die Gesetze sind neu, aber die Richter sind noch die alten.

Von einer "ernsten Verwarnung" für die türkischen Richter sprach deshalb Fatma Nur Serter von der oppositionellen Partei CHP, und Ahmet Iyimaya, Rechtsexperte der regierenden AKP, forderte seine Regierung auf, nun "das Nötige zu tun". Mehreren Untersuchungen zufolge werden 40 Prozent der türkischen Frauen Opfer häuslicher Gewalt, nur wenige gehen zur Polizei. Aktivistinnen wie Zozan Özgökce vom Frauenverein Van begrüßten das Urteil: Es sei "eine Chance für die Türkei, die Augen zu öffnen". Die einzige laute Kritik kam bislang von der AKP-Abgeordneten Güldal Aksit, sie findet das Urteil "unfair". Aksit ist die Vorsitzende des Gleichberechtigungsausschusses im Parlament. "Leider", wie die Zeitung Radikal prompt kommentierte.

Klägerin Opuz kann sich derweil noch nicht richtig über das Straßburger Urteil freuen. Ihr Ehemann wurde in der Türkei 2008 zu lebenslanger Haft verurteilt - und bis zum Berufungsverfahren sofort wieder auf freien Fuß gesetzt. Nahide Opuz ist untergetaucht. Über ihre Anwältin ließ sie ausrichten, ihr Ehemann bedrohe sie weiterhin. Sie hoffe nun auf Polizeischutz.

© SZ vom 12.6.2009/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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