Türkei und IS:Feind meines Feindes

Türkei und IS: Trauer und Protest: Eine junge Frau hält ein Plakat mit den Fotos der Terror-Opfer von Suruç. In dem Grenzort starben 32 Menschen.

Trauer und Protest: Eine junge Frau hält ein Plakat mit den Fotos der Terror-Opfer von Suruç. In dem Grenzort starben 32 Menschen.

(Foto: Adem Altan/AFP)
  • Im Kampf gegen den syrischen Machthaber Assad konnten IS-Kämpfer ungehindert die türkische Grenze passieren, angeblich wurden sie sogar in Krankenhäusern behandelt.
  • Um Assad loszuwerden, hat die Türkei jahrelang syrischen Regimegegnern einen Rückzugsraum geboten.
  • Doch nun ist das Risiko unkontrollierbar geworden. Im Juli begannen türkische Sicherheitskräfte eine Verhaftungswelle gegen mutmaßliche IS-Leute.

Von Luisa Seeling

Es begann mit einer Fehleinschätzung. Früher oder später, so dachte Recep Tayyip Erdoğan, als er noch türkischer Regierungschef war, würde der syrische Diktator Baschar al-Assad stürzen. Bis heute ist dies ein Ziel von Erdoğans Außenpolitik geblieben: Der von Iran gestützte Gewaltherrscher im Nachbarland soll von der Macht verschwinden.

Um Assad loszuwerden, hat die Türkei jahrelang syrischen Regimegegnern einen Rückzugsraum geboten. Selbst die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat Ankara gewähren lassen: Deren Kämpfer konnten die 900 Kilometer lange syrisch-türkische Grenze ungehindert passieren. Türkische Krankenhäuser sollen verletzte IS-Kämpfer sogar medizinisch versorgt haben.

Im vergangenen Jahr verbreitete die größte Oppositionspartei in Ankara, die CHP, ein Foto von einem IS-Kommandeur, der bei Gefechten in Syrien verletzt worden sei. Das Bild zeigte ihn angeblich in einem Krankenhaus in Hatay in der Südosttürkei, wo er kostenlos behandelt werde. Die regierungskritische Zeitung Today's Zaman zitierte eine Krankenschwester in einer Privatklinik in Mersin mit dem Satz: "Wir behandeln sie, dann gehen sie hin und schneiden Köpfe ab."

900 Kilometer lang ist die Grenze zu Syrien, die Kontrolle dort ist schwach

Im vergangenen September wurden Details aus einem Bericht des türkischen Geheimdiensts MIT publik. Das interne Dokument beschrieb, so wurde berichtet, wie der IS im Süden der Türkei Kämpfer anwerbe und nach Syrien hinüberschleuse. Auch Kinder und Jugendliche würden aus türkischen Familien verschleppt, in manchen Fällen sollen die Familien Entschädigungszahlungen erhalten haben. Freiwillige aus aller Welt gelangten über die Türkei nach Syrien - der Bericht sprach von 50 Personen, die jeden Tag am Flughafen von Gaziantep im Südosten des Landes ankämen - die erste Station einer Reise ins Kalifat.

Zudem werbe der IS in sozialen Netzwerken offen um Spenden. Viele der Internetseiten würden von Vereinen betrieben, die offiziell registriert und als gemeinnützig anerkannt seien. Die Zeitung Hürriyet Daily News schickte damals in einer groß angelegten Recherche Reporter auf die Spur der Terrormiliz. Die Journalisten sprachen mit Anwerbern und Dschihad-Willigen in türkischen Städten - und dokumentierten ein gut funktionierendes Anwerbe- und Transitsystem.

Konfessionelle Nähe zum IS

Nun sind die 900 Grenzkilometer für die türkischen Sicherheitskräfte sicher nicht leicht zu kontrollieren. Und angesichts der inzwischen 1,5 bis 2 Millionen syrischen Flüchtlinge, die mehrheitlich nicht in Lagern leben, sondern in den Metropolen des Landes und in Städten nahe der syrischen Grenze, ist es kaum möglich, jede Entwicklung im Auge zu behalten. Auch stimmt es, dass viele der Dschihadisten aus Europa kommen, also aus genau jenen Ländern, die zu den schärfsten Kritikern der türkischen Anti-Terror-Politik gehören. Ankara hat immer vehement bestritten, den IS zu unterstützen oder auch nur zu dulden. Viel unternommen, um dessen Ausbreitung zu verhindern, hat sie aber nicht.

Nicht im IS sah Ankara den gefährlichsten Feind, sondern in den Kurden mit ihren Autonomiebestrebungen im Norden Syriens. Die Aleviten in der Türkei, aber auch viele Vertreter der säkularen Opposition werfen der AKP-Regierung vor, den sunnitischen IS auch wegen dessen konfessioneller Nähe zu unterstützen.

Unklar ist, was an den Vorwürfen dran ist, dass türkische Sicherheitsbehörden gezielt Waffenlieferungen nach Syrien zugelassen oder veranlasst hätten. In zumindest einem Fall gibt es handfeste Hinweise: Im Juli 2014 legte der stellvertretende CHP-Vorsitzende Bülent Tezcan im Parlament Protokolle der Staatsanwaltschaft im grenznahen Adana vor, die im Januar 2014 in drei Sattelschleppern auf dem Weg nach Syrien Lenkflugkörper, Granatwerfer und Flakmunition gefunden hatte. Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes erzwangen den Abbruch der Durchsuchung; als die beteiligten Staatsanwälte nicht lockerließen, wurden sie strafversetzt. Erdoğan erklärte die Durchsuchung zum Komplott des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Als die Zeitung Cumhuriyet im Parlamentswahlkampf Anfang Juni Aufnahmen der Suchaktion veröffentlichte, drohte Erdoğan dem Chefredakteur mit Gefängnis.

Der Sinneswandel im Umgang mit dem IS hatte da aber schon eingesetzt, zu unkontrollierbar war das Risiko geworden. Im Juli begannen türkische Sicherheitskräfte eine Verhaftungswelle gegen mutmaßliche IS-Leute.

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