Türkei:Fatale Müdigkeit

Justice Rally Held by Turkey's Opposition Republican People's Party

Haben sie noch eine Chance? Anhänger der Oppositionspartei CHP bei einer Kundgebung

(Foto: Chris McGrath/ Getty Images)

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat in seiner Partei AKP Anzeichen von Erschlaffung und Vetternwirtschaft festgestellt. Er hat sich auf Fehlersuche begeben. Derweil formiert sich die Opposition neu.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Als der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan diese Woche mit seiner Partei zusammenkam, um den 16. Geburtstag der AKP zu feiern, wählte er einen außergewöhnlichen Ort: "Wunderland". So heißt der Vergnügungspark bei Ankara, in dem sich Riesen und Zwerge tummeln. Erdoğan ging es nicht wirklich um die Unterhaltung. Ihn treibt die Sorge an, dass sich seine Partei stärker fühlt als sie ist. Seit Wochen spricht er davon, dass es in der AKP Anzeichen von Ermüdung gebe. Auch im "Wunderland" machte er das vor 6000 Gästen zum Thema. Die Partei müsse sich radikal verändern. Wer nicht bereit dazu sei, habe Platz zu machen. Es waren harte Worte, die Premier Binali Yıldırım mit der Bemerkung abzufedern versuchte, es handle sich um eine Art "Frühjahrsmüdigkeit", die sich lege.

Aus der Parteizentrale ist zu vernehmen, viele Funktionäre könnten ausgetauscht werden

Aber tatsächlich gehen die Probleme tiefer. Erdoğan hat nicht vergessen, dass er das Referendum über die Präsidialverfassung im April nur knapp und unter fragwürdigen Umständen gewonnen hat. Außerdem hat er mit seinem Griff nach uneingeschränkter Macht selbst die Anforderungen hochgeschraubt. Als die AKP 2002 an die Macht kam, genügten ihr bei der Wahl 34 Prozent, um die absolute Mehrheit zu erreichen, so günstig waren die Umstände. In Erdoğans Präsidialsystem, das 2019 seine Vollendung finden soll, braucht er jetzt "50 Prozent plus eine Stimme".

Seine AKP muss besser denn je werden, findet Erdoğan, und er hat sich auf Fehlersuche begeben. Vor seinem Auftritt wurden in einer internen Sitzung erste Erkenntnisse präsentiert. Beim Referendum im April hatten ihm in manchen Regionen bis zu zwölf Prozent der Anhänger die Gefolgschaft verweigert. Demnach hat sich der Eindruck festgesetzt, auf lokaler und regionaler Ebene sei Funktionären "Einfluss und Geld" wichtiger, als Beziehungen zu den Bürgern. Von Vetternwirtschaft ist die Rede, die Partei müsse zu ihren "Werkseinstellungen" zurückfinden.

Aus der Parteizentrale ist zu vernehmen, dass die Hälfte der Funktionäre ausgetauscht werden könnte. Außer über Erdoğan, der auch Parteichef ist, könne über jede Personalie gesprochen werden, sagte Mustafa Ataş, zuständig für die Parteiorganisation, der Zeitung Habertürk. Viel Zeit bleibt Erdoğan nicht. 2019 stehen mit Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahl drei Abstimmungen an.

In der Opposition herrscht hingegen so viel Bewegung wie lange nicht. Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der säkularen CHP, hat seine Rolle als Oppositionsführer gefestigt. Seit seinem international viel beachteten "Marsch für Gerechtigkeit" von Ankara nach Istanbul sind die Kritiker aus den eigenen Reihen verstummt, die ihm nicht viel zutrauten. Nun versucht Kılıçdaroğlu ein Bündnis gegen Erdoğan zu schmieden. Dafür ist er bereit, die Distanz zur pro-kurdischen Partei HDP zu verringern, die immer noch Mühe hat, sich vom Terror der PKK zu distanzieren.

Die HDP folgt dem Beispiel der CHP und trägt den Protest gegen Erdoğan auf die Straße, wo sie sogenannte "Gerechtigkeitswachen" abhält. Zahlreiche Spitzenfunktionäre der HDP sitzen wegen des Terrorvorwurfs in Haft. Aber auch Abgeordnete der CHP hat die Regierung mittlerweile ins Visier genommen, weshalb Kommentatoren sich fragen, ob CHP-Chef Kılıçdaroğlu womöglich der Nächste ist, der ins Gefängnis muss. Erdoğan persönlich stellte Kılıçdaroğlu am Wochenende unter Verdacht. Seit Tagen liegen AKP und CHP deshalb im Clinch. In dem Getöse geht fast unter, dass sich am rechten Rand demnächst eine neue Partei gründen will, die direkt der AKP Konkurrenz macht. Abtrünnige der ultranationalistischen Partei MHP unter Führung der früheren Innenministerin Meral Akşener wollen eine "Partei des Zentrums" gründen. "Da entsteht eine Partei, die alle Patrioten einlädt, egal ob sie links oder rechts der Mitte stehen", kündigte einer ihrer Mitstreiter an. Gut möglich, dass diese Partei Erdoğan am gefährlichsten werden könnte.

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