Türkei:Erdoğans Gegner sind geschlagen - nicht besiegt

  • Die Türken haben für eine Verfassungsänderung gestimmt, die Präsident Erdoğan deutlich mehr Macht einräumt. Doch das Ergebnis ist umstritten.
  • Oppositionsparteien wollen die Wahl wegen Manipulationsvorwürfen vor den Europäischen Menschengerichtshof bringen.
  • Die regierende AKP muss sich angesichts des knappen Ausgangs des Referendums Sorgen um den Machterhalt machen.

Von Luisa Seeling

Es kommt nicht nur auf das Ergebnis einer Abstimmung an, sondern auch darauf, wie man es verkauft. Das gilt umso mehr, je knapper das Resultat ausfällt. Das türkische Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems ist denkbar knapp ausgegangen, am Ende lagen die Gegner nur etwa drei Prozentpunkte hinter den Befürwortern. Eine echte Zitterpartie also, doch am Sonntagabend feierte Präsident Erdoğan das Ergebnis unbeirrt als großen Sieg "für die ganze Türkei". Die Vorwürfe, bei der Wahl sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, wies er am Tag darauf scharf zurück.

Die Vorwürfe werden vor allem von Oppositionspolitikern erhoben, etwa von Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der sozialdemokratischen CHP. Der sprach am Sonntagabend nicht von einer Niederlage, sondern davon, dass das Referendum die Wahrheit ans Licht gebracht habe: "Mindestens 50 Prozent dieses Volkes hat dazu Nein gesagt" - mehr als die Hälfte also, wäre bei der Wahl nicht getrickst worden, sollte das heißen.

Seine Partei will das Ergebnis nun anfechten. Und nicht nur das: Die CHP und die prokurdische Oppositionspartei HDP möchten den Fall sogar vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen, wenn die türkische Wahlkommission ihre Entscheidung, nicht mit amtlichem Siegel versehene Stimmzettel zuzulassen, nicht korrigiert. Die Behörde weist alle Manipulationsvorwürfe zurück, die Wahlunterlagen seien "korrekt" gewesen und daher gültig. Gut zehn Tage hat die Opposition nun Zeit, Einspruch einzulegen, bevor das amtliche Endergebnis verkündet wird.

Ob die Beschwerde Erfolg hat, ist fraglich. Doch allein schon die Debatte ist für die regierende AKP höchst unbequem. Sie hatte, räumen selbst Parteivertreter ein, auf einen deutlicheren Sieg gehofft. Noch schwieriger aber ist die Lage für die Opposition. Sie ist schon länger in der Defensive. Spätestens seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 und der Verhängung des Ausnahmezustands ist ihr Spielraum auf ein Minimum geschrumpft, während Erdoğan seine Macht immer mehr ausgebaut hat.

Am härtesten betroffen ist die HDP. Ihre Führung sitzt seit Monaten im Gefängnis, im Südosten des Landes wurden Hunderte ihrer kommunalen Vertreter festgenommen. Solange der Konflikt in den Kurdengebieten tobt, dürfte der Druck auf die HDP kaum nachlassen. Als parlamentarische Kraft fällt sie weitgehend aus, ihr bleibt nur die außerparlamentarische Opposition, und auch die ist im Ausnahmezustand mit großen Risiken verbunden.

Berichten zufolge will die Regierung den Notstand nun um weitere drei Monate verlängern. Vize-Ministerpräsident Nurettin Canikli bestätigte am Montag dem Sender A-Haber, dass die Frage bei einer Sitzung des Sicherheitsrats diskutiert werde. Im Ausnahmezustand sind Grundrechte wie die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt, der Präsident darf per Dekret regieren. Erdoğan hat davon bereits intensiven Gebrauch gemacht, und Beobachter gehen davon aus, dass er dies weiter tun wird.

Die AKP muss sich durchaus Sorgen um den Machterhalt machen

Mit der Veröffentlichung des Endergebnisses im Amtsanzeiger tritt die Verfassungsänderung in Kraft. Dann beginnt die schrittweise Umsetzung der Reformen. Eine davon ist die zeitgleiche Wahl von Präsident und Parlament. Sie soll erstmals im November 2019 erfolgen. Die Verfassung erlaubt dem Präsidenten zwei Amtsperioden. Weil mit Inkrafttreten der Reform eine neue Zählung beginnt, könnte Erdoğan bis 2029 regieren. Spekulationen über vorgezogene Neuwahlen wies Vize-Regierungschef Mehmet Şimşek am Montag zurück. Der Präsident habe klargemacht, dass es beim Termin 2019 bleibe. Mit dieser Wahl wird dann auch das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft. Die Exekutivgewalt soll weitgehend auf den Präsidenten übergehen, er wird Staats- und Regierungschef in einer Person.

Andere Änderungen treten schon früher in Kraft, etwa die Abschaffung der Militärgerichte. Zudem beginnen die Vorbereitungen für die Neubesetzung des Rates der Richter und Staatsanwälte. Der Neuzuschnitt des Gremiums ist hochumstritten, weil der Präsident künftig einen höheren Anteil der Mitglieder bestimmt. Damit nimmt sein Einfluss auf die Justiz zu.

Ebenso umstritten ist eine Änderung, die wohl bald vollzogen werden dürfte: Künftig darf der Präsident einer Partei angehören und deren Vorsitz übernehmen. Es wird erwartet, dass Erdoğan demnächst offiziell an die Spitze der AKP zurückkehrt. Wenn bei zeitgleichen Wahlen die Partei des Präsidenten dann auch die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament stellt, die der Parteichef vorher ausgesucht hat, wird Erdoğans Macht im neuen System weit in die Legislative hineinreichen - sollte er wieder Präsident werden.

Die Nationalisten schlugen sich plötzlich auf Erdoğans Seite. Das dürfte ihrer Partei schaden

Bis 2019 kann allerdings noch viel passieren. Die AKP muss sich angesichts des knappen Ausgangs des Referendums durchaus Sorgen um den Machterhalt machen. In den Großstädten Istanbul und Ankara verfehlte das Ja-Lager die Mehrheit. Es kam auf weit weniger Stimmen, als die AKP und die mit ihr neuerdings verbündete nationalistische MHP bei den vorangegangenen Parlamentswahlen erzielt hatten.

Die Nationalisten gehörten lange zu Erdoğans Gegnern, bis ihr Vorsitzender Devlet Bahçeli umschwenkte und begann, das Präsidialsystem zu unterstützen. Es heißt, Bahçeli habe sich im Gegenzug einen von zwei künftigen Vize-Präsidentenposten zusichern lassen. Seiner Partei aber dürfte das Manöver geschadet haben. Einige Abgeordneter wurden ausgeschlossen, weil sie ins Nein-Lager überliefen, auch der Basis gefiel der neue Kurs nicht.

Der CHP wiederum stehen schwierige Entscheidungen bevor. Soll sie sich mit aller Kraft gegen den Systemwechsel wehren oder auf einen Wahlkampf unter geänderten Vorzeichen vorbereiten? Bei der Präsidentschaftswahl 2014 hatten CHP und MHP einen gemeinsamen Kandidaten aufgestellt, der aber farblos blieb und gegen Erdoğan hoch verlor. Für die kommende Wahl macht die Zeitung Hürriyet Daily News einen unorthodoxen Vorschlag: Die CHP solle jemanden ins Rennen schicken, der verspricht, die Verfassungsänderung teilweise zurückzunehmen.

Erdoğans Gegner mobilisieren derweil schon mal über Twitter, unter #HayırDahaBitmedi, was so viel heißt, wie: Wir geben noch nicht auf.

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