Wahl in der Türkei:Erdoğan, ein fast Allmächtiger

Wahl in der Türkei: Nach getaner Arbeit: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird beim Verlassen seines Wahllokals in Istanbul von begeisterten Anhängern empfangen.

Nach getaner Arbeit: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird beim Verlassen seines Wahllokals in Istanbul von begeisterten Anhängern empfangen.

(Foto: Bulent Kilic/AFP)
  • Unter Präsident Erdoğan erlebte die türkische Wirtschaft einen Boom, doch demokratische Freiheiten sind in Gefahr.
  • Wenn jetzt zugleich mit der Wahl die Verfassungsänderung umgesetzt wird, erhält der wiedergewählte Präsident zahlreiche neue Rechte und Kompetenzen.
  • Erdoğan selbst spricht von "totaler Gewaltenteilung" - weil Regierung und Parlament künftig unabhängig voneinander agierten.
  • Doch es herrscht Unsicherheit: Teile des neuen Staatssystems sind noch völlig ungeregelt.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Als Recep Tayyip Erdoğan kurz vor dem Wahltag noch einmal gefragt wurde, warum die Türkei denn überhaupt das neue Präsidialsystem brauche, sagte er: Eine "bürokratische Oligarchie" stehe dem Fortschritt der Türkei im Weg. Das Zitat stand in der Wochenendausgabe der sehr regierungsnahen Zeitung Daily Sabah, die auf Englisch erscheint und auch außerhalb der Türkei erklären soll, was hier eigentlich geschieht. Es klang so, als hätten Erdoğan und seine islamisch-konservative Partei AKP nicht schon 16 Jahre regiert.

In dieser Zeit hat Erdoğan die Türkei bereits tiefer verändert als alle seine Vorgänger, abgesehen von Staatsgründer Kemal Atatürk, der das Osmanische Reich beseitigte. Wirtschaftlich erlebte das Land seit Beginn der AKP-Herrschaft im Jahr 2002 einen ungeheuren Aufschwung. Auch für das erste Quartal 2018 meldete das nationale Statistikinstitut ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 7,4 Prozent. Damit gehört die Türkei zu den globalen Spitzenreitern.

Nicht mitgewachsen sind die demokratischen Freiheiten. Längst dahin ist der Reformschwung der ersten Erdoğan-Jahre, als das Land mit politischen Tabubrüchen beeindruckte: Damals wurden viele Gesetze an EU-Vorgaben angepasst, den Kurden wurde erlaubt, ihre Sprache zu sprechen, die Türkei wünschte sich gute Beziehungen mit allen Nachbarn.

Nun aber sieht nicht nur die EU-Kommission große Rückschritte, vor allem bei der Rechtsstaatlichkeit. Fast jeder Besuch in einem türkischen Gerichtssaal zeigt verunsicherte Richter, die nicht wissen, ob sie nicht morgen selbst Angeklagte sind. Die Gefängnisse sind übervoll, nicht nur mit mutmaßlichen Verantwortlichen für den Putschversuch von 2016, sondern auch mit Oppositionellen, Journalisten, Lehrern, Professoren, Juristen.

16 Minister, mehrere Vizepräsidenten

Wenn Erdoğan mit der neuen Verfassung nun noch mehr Macht will - was will er dann damit anfangen? Erdoğan selbst spricht von "totaler Gewaltenteilung" und erklärt das so: Präsident und Parlament agierten künftig völlig unabhängig voneinander. Der Präsident ernennt 16 Minister - die Zahl hat Erdoğan erst wenige Tage vor der Wahl verkündet - und mehrere Vizepräsidenten. Wie viele, das ließ er offen, womöglich, weil das Wahlergebnis Rücksicht auf seinen Bündnispartner, die ultrarechte MHP verlangt. Minister und Vizes kann der Präsident auch wieder entlassen, wenn er will. Das Parlament hat da nichts mitzuentscheiden. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft, all dessen Kompetenzen gehen auf den Staatspräsidenten über.

Der türkische Verfassungsexperte Osman Can nannte diese "Reform" in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung "eine die Staatsstruktur tief erschütternde Verfassungsänderung". Niemand wisse zudem, "wie das neue System funktionieren soll", sagte Can, Teile der Umsetzung seien noch nicht genau geregelt. "Das ist so, als wenn jemand eine Stellenanzeige für einen Chauffeur aufgibt, aber nicht dazu schreibt, ob es sich um den Fahrer eines Traktors, eines Ferrari oder eines Zuges handelt."

2004 war Erdoğan "Europäer des Jahres" - lange her

Das Haushaltsrecht liegt weiter beim Parlament, diese ureigene Kompetenz konnte die Änderung nicht antasten, eine gewisse Kooperation mit den Abgeordneten ist also nötig. Der Präsident kann damit zwar Minister aus seiner Partei berufen, auch wenn die AKP im Parlament nicht die Mehrheit hat. Aber wenn die Abgeordneten dann das Budget ablehnen, ist der Staat blockiert. Erdoğan sprach wohl deshalb kurz vor der Wahl davon, dass er "Koalitionen" nicht völlig ausschließe.

Das Präsidialsystem hatte er ursprünglich auch damit begründet, dass Koalitionen vermieden werden sollten, weil sie die Türkei in der Vergangenheit ins politische und wirtschaftliche Chaos gestürzt hätten. Auch den Generalstabschef, viele hohe Richter, Universitätsrektoren und andere Behördenchefs kann der Präsident künftig ernennen. Seine Macht ist damit größer als je zuvor.

Maximal zwei Amtszeiten - gezählt ab jetzt

Die Verfassungsänderung wurde im Januar 2017 im Parlament verabschiedet. Die AKP verfügte allein über 316 Abgeordnete. Mit Unterstützung der rechten MHP kamen schließlich 339 Abgeordnete zusammen. Das reichte nicht für die notwendige Zweidrittelmehrheit (367 Stimmen), machte aber den Weg zu einer Volksabstimmung im April 2017 frei. Dabei stimmte eine knappe Mehrheit von 51,4 Prozent für die Verfassungsänderung. Die Opposition vermutete Manipulationen in zahlreichen Stimmlokalen, sie scheiterte aber vor den Gerichten mit ihren Forderungen nach Annullierung der Ergebnisse.

Die Amtszeiten des Präsidenten sind in der neuen Verfassung auf zwei begrenzt. Allerdings wird mit der Umsetzung der Verfassungsänderung neu gezählt - Erdoğan könnte 2023 noch einmal kandidieren. Dann wird die Republik 100 Jahre alt.

Deren Gründer Atatürk regierte einst auch mit großen Vollmachten, aber danach hat sich die Türkei Stück für Stück in einem parlamentarischen System demokratisiert. Es gab immer wieder Rückschläge, Militärputsche und Putschversuche. Auch das hatte Erdoğans Aufstieg ermöglicht: Er versprach, die Vorherrschaft des Militärs zu beenden. 2004 wurde er zum "Europäer des Jahres" gekürt. Lange her.

Und was will Erdoğan mit der Bürokratie tun? Es sollen viele "Staatsagenturen" entstehen - kontrolliert vom Palast. "Populisten", sagt Ioannis Grigoriadis, Professor für Europäische Studien an der Bilkent Universität in Ankara, argumentierten gern, dass sie zwar regierten, aber nicht "die Macht" hätten. Erdoğan ist gewiss ein Populist - und er will die Macht.

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