Türkei:Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen wäre ein Geschenk für Erdoğan

Turkish President Tayyip Erdogan speaks during a news conference at Ataturk International Airport in Istanbul

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einer Pressekonferenz in Istanbul

(Foto: REUTERS)

Erst die Nazi-Vergleiche, jetzt eine Reisewarnung für Deutschland: Den absurden Provokationen Erdoğans sollte man gleichgültig begegnen.

Kommentar von Luisa Seeling

Offenbar gehen dem türkischen Präsidenten die Ideen aus. Anders lässt sich nicht erklären, warum er zu einer derart kindischen Retourkutsche greift und eine Reisewarnung ausspricht, die in Deutschland lebende und dorthin reisende Türken zur Vorsicht mahnt. Vorsicht wovor? Recep Tayyip Erdoğan hat schon einige Provokationen an den Deutschen ausprobiert, den bisherigen Höhepunkt bildeten diverse Nazi-Vergleiche, und schon damals fragte man sich: Was kann da noch kommen? Nicht viel offenbar.

Natürlich geht es Erdoğan ums Spalten und Provozieren. Aber zum Provozieren gehören zwei - auch einer, der sich provozieren lässt. Der türkische Staatschef hat die Erfahrung gemacht, dass das bestens funktioniert. Er haut einen raus, und in Deutschland drehen alle durch, erst recht in Wahlkampfzeiten.

Wohin das führt, wenn Erdoğan die deutsche Politik vor sich hertreibt, hat man vorige Woche gesehen: Da war zuerst Martin Schulz in der Türkeipolitik umgeschwenkt, im TV-Duell sprach er sich für einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen aus, und die Kanzlerin, sichtlich überrumpelt, schloss sich zaghaft an. Wie wenig sie übrigens von diesem Kurswechsel überzeugt war, zeigte sich kurz darauf, als Angela Merkel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung dazu nur noch sagte: "Viele Optionen liegen auf dem Tisch."

Ein schöneres Geschenk kann man Erdoğan nicht machen

Das Gefühl hierzulande, man müsse es Erdoğan mal so richtig zeigen, ist gerade sehr ausgeprägt. Doch anstatt sich mitreißen zu lassen, wäre genau das Gegenteil nötig: ruhig bleiben, der Reisewarnung mit wohldosierter Gleichgültigkeit begegnen. Gegen einen Komplettabbruch jedenfalls spricht einiges: Fast niemand in der EU will sich diesem Vorstoß anschließen, Berlin ist isoliert. Ein schöneres Geschenk kann man Erdoğan nicht machen.

Falsch ist der Vorstoß auch, weil ein Abbruch keine Perspektive offenlässt, dass es irgendwann unter einer anderen Führung als der Erdoğans doch noch klappen könnte mit der Wiederannäherung. Man hätte es der Türkei mal so richtig gezeigt - aber was dann? Demokratischer, so viel ist sicher, wird das Land davon nicht. Es muss ein Anreiz für die Türkei bleiben, sonst ist jedes Druckmittel sinnlos. Und die deutschen Gefangenen dort - warum sollte Erdoğan sie freilassen, wenn Schluss ist mit dem Beitrittsprozess?

Klüger wäre es, die Verhandlungen einzufrieren, wie es auch das EU-Parlament gefordert hat. Das ließe eine Tür offen für die Zeit nach Erdoğan. Und es wäre ein Signal, dass mit der Maßnahme diese spezielle Regierung, dieser spezielle Präsident gemeint ist - nicht die Türkei als Ganzes.

An zwei Zielen sollte sich jede deutsche Türkei-Politik orientieren: die Stärkung der demokratischen Kräfte, denn sie sind es, die die Türkei irgendwann hoffentlich wieder in eine andere, weniger autoritäre Richtung führen werden. Und ein gutes Zusammenleben mit den Türken in Deutschland. Diese Ziele bleiben, sie werden sich nicht ändern, auch durch keinen Wahlkampf, weder hier noch dort.

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