Türkei:Die Türkei entfremdet sich von der EU

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Selektiv angewandtes Recht: Kurden in Istanbul protestieren gegen die Verhaftung kurdischer Politiker. (Foto: Yasin Akgul/AFP)
  • Die EU-Kommission hat den "Fortschritt" des Beitrittskandidaten Türkei im vergangenen Jahr in einem Bericht dokumentiert.
  • Er zeichnet das Bild eines wirtschaftlich potenten und aufstrebenden, aber zunehmend autoritär regierten Staates.
  • Man sei aber bereit, den politischen Dialog "auf allen Ebenen und im bestehenden Rahmen" fortzuführen, sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Der Entwurf des Berichts, in dem die EU-Kommission den "Fortschritt" des Beitrittskandidaten Türkei im vergangenen Jahr dokumentiert, ist auf Englisch verfasst. Es wimmelt darin von Ausdrücken wie "serious", "grave" oder "severe". Sie dienen einerseits dazu, die "ernsthaften" oder "schwerwiegenden" Vergehen oder Verstöße der Türkei gegen die europäischen Vorgaben zu beschreiben, zum anderen charakterisiert die Behörde damit auch ihre Bedenken und Zweifel angesichts der Entwicklung des schwierigen Partners.

Der Bericht, verfasst von Experten, die sich in die Details des öffentlichen Lebens der Türkei hineingewühlt haben, ist eine schonungslose Bestandsaufnahme - und die Bilanz einer Entfremdung. Auf mehr als 100 Seiten wird das Bild eines wirtschaftlich potenten und aufstrebenden, aber zunehmend autoritär regierten Staates gezeichnet, eines Staates, der einerseits der EU beitreten möchte, sich aber mit immenser Geschwindigkeit von den rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Standards dieser Union entfernt.

Es ist nicht so, dass der Bericht, in den die jüngste Eskalation eingearbeitet wurde, Neues präsentiert. Fast alles war schon anderswo zu lesen oder zu hören. Und doch entfaltet diese Zusammenfassung, selbst in der bürokratisch-nüchternen Form aus Brüssel, eine Wucht, die selbst gestandene Realpolitiker in Europas Hauptstädten ins Grübeln bringen müsste.

Auch in früheren Jahren drangen wenig Jubelrufe aus diesen Berichten, wurde allerlei Stagnation beklagt. Aber die Lage hat sich aus zwei Gründen verändert: Zum einen ging es als Reaktion auf den Putschversuch gerade in sensiblen Bereichen rasend schnell rückwärts in den vergangenen Monaten. Zum anderen schaut Europa nun, da es sich in der Flüchtlingskrise noch enger an die Türkei gebunden hat (oder binden musste, wie viele meinen), viel genauer hin.

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Und dies eben gerade bei den heiklen Themen, dort also, wo der Staat, wenn es ihm beliebt, unmittelbar in die Grundrechte von Bürgern eingreift. So wird bei der Meinungsfreiheit ein "ernsthafter Rückschritt" konstatiert, der Anlass zu "wachsenden Bedenken" biete.

Immer neue Journalisten, Schriftsteller oder Blogger würden verfolgt, Medien geschlossen, Akkreditierungen zurückgezogen. Nach dem Putschversuch stieg die Zahl der inhaftierten Journalisten um fast 100 auf 130, und 2500 verloren den Job. Mehr als 190 Medienhäuser mussten den Betrieb einstellen. Dadurch gebe es weniger Pluralismus, so die Kommission, andere Journalisten würden eingeschüchtert. Unter Verweis auf die nationale Sicherheit und den Kampf gegen Terrorismus werde das Recht "selektiv und willkürlich" angewendet.

Noch immer würden Bürger und sogar Jugendliche verurteilt, weil sie den Präsidenten der Republik beleidigt hätten. Dieses "beschränkende und einschüchternde Umfeld" führe zu Selbstzensur und entspreche nicht dem in der EU sich herausbildenden Konsens, solche Aktionen nur in den allerschlimmsten Fällen zu kriminalisieren. Hier wie bei Fällen von Blasphemie stört sich die EU vor allem an den verhängten Gefängnisstrafen, die "abschreckend" auf die Berichterstattung wirkten.

An der Unabhängigkeit und Neutralität der Medien bestünden Zweifel, heißt es weiter, zumal die Besitzstruktur oft im Dunkeln liege. Das öffentliche Radio und Fernsehen funke eindeutig auf Regierungslinie, die Zivilgesellschaft dürfe kaum noch mitreden.

Große Probleme sieht die Kommission auch beim Schutz von Minderheiten, der Vereinigungsfreiheit, der Korruption, der Parteienfinanzierung, dem Datenschutz, dem Terrorbegriff und nicht zuletzt bei der Unabhängigkeit der Justiz. Hier nehme der Staat viel zu oft und zu direkt Einfluss, etwa durch die Entlassung von Richtern und übereilte Neueinstellungen. Das könne die "Qualität der juristischen Entscheidungen beeinträchtigen", die sich eigentlich in jüngster Zeit verbessert habe.

Neben der Diagnose liefert die Kommission wie stets auch Therapievorschläge. Meist sind es Wiederholungen aus den Vorjahren, an denen man die Diskrepanz zur realen Entwicklung des Landes gut ablesen kann. So wird gefordert, dass Richter nicht gegen ihren Willen versetzt werden; oder sie nur zu entlassen, wenn ein fundierter Verdacht auf ein ernsthaftes Vergehen vorliegt. Im Ausnahmezustand, der seit dem Putschversucht gilt, zählt dieses Vorgehen längst zum Normalfall.

"Die Türkei ist so weit weg wie selten zuvor"

Was aber folgt aus diesem Bericht? Ein Politikwechsel? An diesem Mittwoch diskutiert das Kollegium der Kommissare über den Text und mögliche Konsequenzen. Bisher haben sich nur die Kabinettschefs darüber gebeugt und ihren Vorgesetzten eine Tischvorlage hingelegt. Darin bringen sie "schwere Besorgnis" zum Ausdruck. Dann heißt es, die Türkei habe sich zur Einhaltung höchster rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Standards verpflichtet. Die EU wiederum wolle mit einer "demokratischen, inklusiven und stabilen Türkei" zusammenarbeiten. Das ist sie nicht, wie der Bericht ausführlich belegt. Insofern könnte man daraus die indirekte Drohung ablesen, dass es so nicht weitergehen kann.

Nach Ansicht von Christdemokraten, die das Land ohnehin skeptischer betrachten, müsste die Antwort klarer ausfallen. "Die Türkei ist so weit weg von der EU wie selten zuvor", sagt die EU-Abgeordnete Angelika Niebler (CSU). Die Konsequenz könne nur lauten: "Die Beitrittsverhandlungen mit der EU müssen beendet werden." Mindestens ein Kommissar denkt ähnlich und wird in der Aussprache darauf dringen, den EU-Staaten ein Aussetzen der Beitrittsgespräche zu empfehlen.

Zu diesem Schritt wird es wohl nicht kommen. Die Linie gab am Dienstag im Namen der Mitgliedstaaten die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini vor. Die Entwicklung sei zwar "äußerst besorgniserregend", sagte sie. Man sei aber bereit, den politischen Dialog "auf allen Ebenen und im bestehenden Rahmen" fortzuführen.

© SZ vom 09.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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