Türkei:Der Mob regiert

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In Istanbul demonstrieren türkische Nationalisten gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK. (Foto: Ozan Kose / afp)

Die Türkei ist auf dem besten Weg gewesen, den Kurden-Konflikt politisch zu lösen. Doch stattdessen erlebt das Land eine Pogromstimmung.

Von Mike Szymanski, Athen

Ibrahim Ç. zog sich eine kurdische Militäruniform an. Er machte ein Foto von sich und stellte es ins Internet. Sein Kommentar dazu: "Es ist eine Ehre, diese Uniform zu tragen." Es dauerte nicht lange, und er musste bitter dafür bezahlen.

Türkische Nationalisten lauerten dem Mann im südwesttürkischen Muğla auf. Mit dieser Uniform musste er ja ein Feind sein. Ein Sympathisant der verbotenen prokurdischen Arbeiterpartei PKK, die seit Tagen schwere Anschläge auf türkische Sicherheitskräfte verübt. Sie schlugen ihn, berichten türkische Medien, sie rissen ihm die Kleider vom Leib. Sie zwangen ihn, die Statue von Republikgründer Atatürk in ihrer Stadt zu küssen.

Der Mob regiert in der Türkei. Nicht nur in Muğla kommt es zu beklemmenden Szenen. Das Land erlebt eine schreckliche Nacht.

Dutzende wütende Türken attackieren die Parteizentrale der prokurdischen HDP in Ankara. Ein Tweet aus der Nacht liest sich wie ein Hilferuf: "Unsere Zentrale wird angegriffen. Die Polizei kommt ihrer Aufgabe nicht nach." Es ist nur ein paar Stunden her, dass der türkische Premier Ahmet Davutoğlu angekündigt hatte, man werde die PKK "auslöschen". Nun erlebt sein Land entfesselte Gewalt. Die Angreifer werfen Steine auf die HDP-Zentrale und dringen in das Gebäude ein. Sie haben ein Ziel: das Gedächtnis der Partei. Sie stecken das Archiv an. Ein paar Mitarbeiter können sich gerade noch retten. Auch in der zentralanatolischen Stadt Kırşehir entlädt sich Hass. Mitglieder der ultranationalistischen Partei MHP marschieren durch die Stadt und rufen: "Verdammter Terrorismus." Später gehen vier von Kurden betriebene Läden in Flammen auf. In Beypazarı nahe Ankara werden 27 Menschen verletzt, als es zu Übergriffen auf Kurden kommt. Die Redaktion der Hürriyet in Istanbul wurde am Dienstagabend zum zweiten Mal von Erdoğan-Anhängern belagert und angegriffen, weil sie meinen, das Blatt berichte falsch. Es herrscht Pogromstimmung in der Türkei. 93 Menschen nimmt die Polizei nach eigenen Angaben fest.

Im November soll in dem Land ein neues Parlament gewählt werden. Wie es aussieht, geht die Türkei schon vorher in einem Strudel der Gewalt unter. Im Juni hatte die AKP, die Partei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die absolute Mehrheit verloren. Er hatte große Pläne. Er wollte das Land zur Präsidialdemokratie umbauen - mit ihm als Herrscher an der Spitze. Diesen Traum erfüllten ihm die Bürger nicht. Stattdessen schafften es die Kurden mit ihrer HDP mit 13 Prozent ins Parlament und blockierten erstmals der AKP den Weg zur absoluten Mehrheit.

Noch nie war die Chance so groß, den Kurdenkonflikt politisch zu lösen, denn die Kurden hatten jetzt eine starke parlamentarische Vertretung. Aber statt Verhandlungen erlebt das Land jetzt wieder Krieg und das Auseinanderbrechen der Gesellschaft. Die Koalitionsgespräche scheiterten, den schon vor der Wahl im Juni ins Stocken geratenen Friedensprozess mit den Kurden erklärte Erdoğan für beendet. Die PKK hat den Finger wieder am Abzug wie in ihren brutalsten Zeiten. Mehr als zwei Dutzend Soldaten und Sicherheitskräfte kamen allein seit Sonntag bei Anschlägen auf Militärfahrzeuge ums Leben. Die Regierung hat Bodentruppen in den Nordirak geschickt, um PKK-Kämpfer dort aufzuspüren und riegelt ganze Städte wie Cizre ab.

Erdoğans AKP war bis zur Wahl im Juni alles andere als eine Anti-Kurden-Partei

Am Mittwoch sagte HDP-Chef Selahattin Demirtaş bei einer Pressekonferenz in der kurdisch geprägten Stadt Diyarbakır, Brüderlichkeit zeige sich nicht bei Hochzeiten, sondern bei Beisetzungen. Aber im Moment betrauern Türken und Kurden ihre Toten wieder jeder für sich.

Demirtaş wurde nach dem Wahlerfolg als Kurden-Obama gefeiert, weil seine HDP im Wahlkampf als gesamttürkische Partei aufgetreten war und die Lösung des Kurdenkonflikts als Teil eines Demokratisierungsprozesses verstand, den das Land zu durchlaufen habe. Mit dieser Sichtweise fand er Zustimmung weit über die kurdische Stammwählerschaft hinaus.

Erdoğans AKP war bis zur Wahl im Juni auch alles andere als eine Anti-Kurden-Partei: In ihren zwölf Jahren an der Regierung fing sie an, den unterentwickelten kurdischen Südosten mit Infrastruktur zu erschließen. Es war Erdoğan, der die Friedensgespräche mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan initiierte. Die AKP hatte unter Kurden ihre Anhänger - auch das ist ein Grund, weshalb sich die Partei lange unangefochten an der Macht halten konnte. Bis die HDP kam.

Den Zusammenhang zwischen der verlorenen Wahl, seinem geplatzten Traum von der Alleinherrschaft und der Gewalt, stellte Erdoğan gerade erst selber her, als er sagte: "Wenn eine Partei 400 Sitze bei den Wahlen bekommen hätte und die erforderliche Stimmenzahl im Parlament für eine Verfassungsänderung erreicht hätte, wäre die Lage anders." Krieg aus purer Enttäuschung? Demirtaş sieht das so. Erdoğan und Davutoğlu hätten ihn begonnen.

Die Gewalt treibt den Keil immer tiefer in die türkische Gesellschaft. Es geht nur noch darum, wer stärker beschädigt wird: Erdoğans AKP profitiert von der Kriegspolitik bislang nicht. Sie stagniert in den Umfragen. Unter diesen Umständen kann sie nur dann die absolute Mehrheit wiedererlangen, wenn die HDP den Wiedereinzug ins Parlament verpasst.

Demirtaş' Appelle, die PKK zum Gewaltverzicht zu bewegen, verpuffen bislang. Die radikalen Kräfte zeigen ihm gerade seine Grenzen auf.

© SZ vom 10.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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