Ahnenforschung:Der Kurde in dir

Ein neuer Online-Dienst in der Türkei hat das Genealogie-Fieber im Land ausbrechen lassen. Doch die Ahnenforschung entfacht politischen Streit.

Von Luisa Seeling

Nur Stunden stand das neue Ahnenregister im Netz, dann brach die Seite unter der Last der Anfragen zusammen. Mit solch einem Ansturm hatte das türkische Einwohnermeldeamt nicht gerechnet. Die Behörde besserte nach, Mitte Februar ging die Datenbank erneut an den Start. Seitdem grassiert in der Türkei das Genealogie-Fieber: Mehr als acht Millionen Menschen sollen nach offiziellen Angaben den Service bereits genutzt haben, ein Zehntel der Bevölkerung. Der Aufwand ist minimal; wo früher ein formaler Antrag nötig war, reichen jetzt die Ausweisnummer, ein Passwort und ein paar Klicks, um den eigenen Stammbaum einzusehen.

Die Datenbank ist aber nicht nur eine Fundgrube für Hobby-Ahnenforscher, sie birgt politischen Sprengstoff. In der Türkei ist eine nervöse Debatte entbrannt: Wollen wir das, was wir in dem Register vorfinden, wirklich so genau wissen? Die Aufzeichnungen, die teils bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, belegen historische Realitäten, die gerne verdrängt werden: Die Türkei ist de facto ein Vielvölkerstaat, auf dem Gebiet der heutigen Republik lebten zu osmanischen Zeiten neben Türken auch zahlreiche andere Volksgruppen - Griechen, Armenier, Kurden, Bulgaren, Araber, um nur einige zu nennen.

Erst der Nationalismus von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk machte sie nach 1923 alle zu Türken. Als Minderheit anerkannt waren nur Griechen, Armenier und Juden, von einer kurdischen Identität und sonstigen Minoritäten wollte der Staat nichts wissen, die nationale Einheit war oberstes Gebot. "Ne mutlu Türküm diyene" (Glücklich derjenige, der sich als Türke bezeichnet) - jedes Kind kennt diesen Leitsatz Atatürks, der eigentlich auf einen staatsbürgerlichen Nationenbegriff verweist; die politische Praxis aber sah allzu oft anders aus, davon können nicht nur die Kurden ein Lied singen.

Kein Wunder also, dass das Ahnenregister kontrovers diskutiert wird. Zumal sich darin Überraschungen verbergen. Es gibt Berichte von Aleviten, die feststellen, dass ihre Urgroßeltern Sunniten waren; von strammen Lokalpatrioten, die herausfinden, dass ihre Ahnen von weither kommen; und von Nationalisten, die auf kurdische oder griechische Vorfahren blicken. Wenn der neue Online-Dienst dabei helfe, alte Tabus aufzubrechen und die "obsessive Fixierung" auf Herkunft zu beenden, sei das eine gute Sache, schreibt eine Kolumnistin der Zeitung Hürriyet. Die Kritiker monieren mangelhaften Datenschutz und warnen vor einer Hexenjagd auf Nachfahren von Minderheiten.

In den sozialen Medien kursieren bereits Drohungen gegen "Krypto-Armenier"; gemeint sind Armenier, die in den Jahren 1915/16 zum Islam konvertierten, um ihrer Ermordung zu entgehen. Andere fragen, warum der Dienst gerade jetzt online ging; sie werfen der Regierung vor, die Spaltung der Gesellschaft aus politischem Kalkül zu vertiefen.

Jenseits dieser Debatte gibt es ganz praktische Gründe für die genealogische Neugier vieler Türken. Wer etwa bulgarische, rumänische oder griechische Vorfahren hat, darf sich unter Umständen Hoffnung auf einen Zweitpass in einem EU-Land machen. Wie türkische Medien berichten, haben sich Botschaften und Konsulate auf eine steigende Zahl von Anfragen eingestellt.

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