Türkei:Beton im Kopf

Türkei: "Diese Berge hier, die bekommt diese Regierung nicht": Rabia Özcan ist nicht mehr nur eine Bäuerin, sie ist inzwischen auch so etwas wie eine Aktivistin.

"Diese Berge hier, die bekommt diese Regierung nicht": Rabia Özcan ist nicht mehr nur eine Bäuerin, sie ist inzwischen auch so etwas wie eine Aktivistin.

(Foto: Mike Szymanski)

Wo die türkische Partei AKP herrscht, da wird gebaut. Auch in der Heimat von Präsident Erdoğan an der Schwarzmeerküste rollen die Bagger. Die Bauern proben den Aufstand.

Von Mike Szymanski, Çamlıhemşin

Rabia Özcan hat es sich unter dem Vordach ihres Holzhauses gemütlich gemacht. Auf der Bank liegt ein weißes, wärmendes Fell. Es ist kühl geworden, der Herbst ist da. Auf der Fensterbank liegen ein paar Äpfel und ein paar Ersatzglühlampen.

Wenn man nur genügsam genug ist, schenkt die Natur reichlich. Diesen Blick zum Beispiel: Vor ihr öffnet sich das friedliche Fırtına-Tal. Es dampft. Nebelschwaden steigen über dem Immergrün des Waldes auf. Rabia Özcan kann nicht genug davon bekommen, auch wenn sie ihn jeden Tag genießen kann. Hier, gut 20 Kilometer landeinwärts von der Schwarzmeerküste, regnet es an 250 Tagen im Jahr. Sagt die Statistik. Wie zum Beleg dafür tippen auch jetzt ein paar Tropfen auf die Blätter. Sonst hört man: nichts.

Rabia Özcan ist hier geboren. Çamlıhemşin heißt dieser Ort, der ein Naturspektakel ist. Die Frau hat ihre Kinder hier groß gezogen. Hier hat sie das Vieh für den Sommer auf das Hochplateau getrieben. Sie ist jetzt 57. Ein Leben harter Arbeit liegt hinter ihr. Der Sohn kümmert sich um das Vieh, sie hat es mit dem Herzen. Sie wollte immer nur ihre Ruhe haben, jetzt besonders. Aber die will ihr einer nehmen, der wirklich keine Ruhe finden kann. Das hier ist Erdoğan-Land.

Nicht der Ruf des Muezzins ist ihr Sound, sondern Baulärm

Die Familie des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan kommt von der Schwarzmeerküste, aus der Provinz Rize. Sein Heimatdorf Güneysu liegt auf den Weg nach Çamlıhemşin. Wenn dort die Leute erzählen, sie liebten Erdoğan, dann ist das nicht nur so dahingesagt. Bei der Wahl im Juni, als Erdoğans Partei AKP landesweit auf 41 Prozent abrutschte und das erste Mal seit 2002 die absolute Mehrheit verlor, wählten in Erdoğans Heimatwahlbezirk immer noch knapp 85 Prozent AKP.

Die islamisch-konservative AKP ist eine Unruhepartei. Nicht der Ruf des Muezzins ist ihr Sound, sondern Baulärm: Wo sie herrscht, wird immer gebaut und Raubbau betrieben. Gerade erst hat sich Umwelt- und Urbanisierungsminister Idris Güllüce - in der Türkei hält man das für gut miteinander vereinbar - im Fernsehen mit einem Beton-Bekenntnis zu Wort gemeldet. Bei einer Grundsteinlegung sagte er: "Die Stimme der Betonmaschinen soll in diesem Land nie fehlen. Pat, pat - bei diesem Geräusch fühle ich mich wohl." Kein Witz.

Turkey Black Sea Region typical frame houses near Ayder PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY SIEF00

Die türkischen Dörfer in der Schwarzmeergegend sind für die Bewohner so etwas wie das Paradies. Bald sollen die Touristen kommen.

(Foto: Imago)

Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Baumaschinen in Rabia Özcans Welt eindringen würden. "Grüne Straße" heißt das Projekt. Angesichts von 2600 Kilometern Straße, die im Hinterland gebaut werden sollen, um die Hochebenen miteinander zu verbinden, liegt die Betonung eindeutig auf Straße. Viel unberührtes Grün bleibt jedenfalls nicht mehr, wenn dieser Plan tatsächlich Wirklichkeit wird: Fünf mal mehr Touristen sollen nach 2018 kommen, wenn die Bergwelt entlang der Schwarzmeerküste mit Straßen, Hotels und Erlebniszentren voll erschlossen ist. Urlauber sollen dann 40 Hochebenen, verteilt über acht Provinzen, innerhalb einer Woche bereisen können.

"Wir leben hier, ohne unsere Türen abzuschließen"

Ein Albtraum für Rabia Özcan. "Es gibt genug Straßen. Wir wissen heute, wer in unseren Bergen unterwegs ist. Wir leben hier, ohne unsere Türen abzuschließen. Das soll so bleiben." Als vor einigen Wochen die ersten Baumaschinen in ihre Berge kamen, verließ Rabia Özcan ihr Haus. Sie nahm ihren Wanderstock. Auch die anderen Bauern kamen aus ihren Hütten, um sich den Eindringlingen in den Weg zu stellen. Es gibt ein Foto von diesem nebligen Tag in den Bergen: Rabia Özcan sitzt auf einem Stein, sie sieht abgekämpft aus, hinter ihr steht die Staatsmacht.

Eine ältere Frau gegen ein Dutzend Gendarmen, die die Baufahrzeuge schützen sollen. Dann beginnt die Frau zu schimpfen, wie man es sich nicht vorstellen kann, wenn man nur die sanfte Seite von ihr erlebt hat. "Wer ist hier zuständig? Was soll das? Habt ihr diese Natur bis heute geschützt oder waren wir das? Das hier ist unser Land. Geht und nehmt die Maschinen mit!"

Seither herrscht Aufruhr in den Bergen. Die Bauarbeiten in dieser Gegend ruhen. Andernorts sind aber schon 500 der 2600 Kilometer Straße fertig.

In Çamlıhemşin wird im Kleinen anschaulich, was Erdoğans Politik im Großen ausmacht: Es geht um Gigantismus. Es geht um seine Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Politik. Der Oppositionspolitiker Haluk Pekşen sitzt für die säkulare CHP in Ankara im Parlament. Als Abgeordneter aus der Schwarzmeerstadt Trabzon kennt er sich mit dem Projekt "Grüne Straße" aus wie kaum ein anderer. 50 Parlamentsanfragen habe allein er gestellt. Je mehr er lernte, desto mehr erschrak er: "Mit kleinen Tricks und Lügen wurde ein großes Projekt daraus", erzählt er.

Umweltgutachten würden umgangen, Waldgesetze geändert, Grundstücke beschlagnahmt. "Jetzt bekommen die Bürger der Schwarzmeerküste allmählich mit, dass sie betrogen wurden." Solange andernorts die Natur dem Wachstum geopfert worden sei, habe man sich nicht daran gestört. Nun enttäusche Erdoğan aber seine engsten Gefolgsleute. Der Politiker der ultranationalistischen Partei MHP, Osman Cem Kazmaz, sagt: "Wir lehnen das Projekt ab. Es ist zum Symbol für AKP-Politik geworden. Davon profitieren nur Baufirmen, die der Regierung nahestehen."

Zwei Polizisten kamen und statteten ihr einen Hausbesuch ab

In der Parteizentrale der AKP in Trabzon lassen sich die Funktionäre nicht mit ihren Namen zitieren. Sie sagen, alles werde von oben bestimmt, deshalb habe es keine Bedeutung, was sie denken würden. Aber das stimmt so nicht. Man lernt von ihnen, wie sie ticken. Einer erzählt, das er vor einiger Zeit mit zwei Kollegen in der Schweiz war. 100 Franken hätten sie für die Seilbahnen gezahlt, um Berge zu gucken. Sie wollen hier auch mit den Bergen Geld verdienen - kann das verkehrt sein?

Rabia Özcan glaubt, dass diese Regierung einfach nicht genug bekommen könne. Sie habe sich bereits die Städte vorgenommen und zugebaut, dann die Küsten. Und jetzt seien die Berge dran. Nachdem sie dem Protest ein Gesicht gegeben hat, kamen zwei Polizisten und statteten ihr einen Hausbesuch ab, erzählt sie. Auch denen sagte sie ihre Meinung. "Ich lebe hier seit Adam und Eva!" Seither heißt sie unten im Dorf Havva Ana, "Mutter Eva". Sogar in Istanbul kennt man diese Frau jetzt.

"Diese Berge hier", sagt die Bäuerin schließlich, "die bekommt diese Regierung nicht." Mutter Eva, das macht sie unmissverständlich klar, wird sich aus ihrem Paradies gewiss nicht so leicht vertreiben lassen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: