Tübingens OB zu Stuttgart 21:"Ein Volksbegehren ist die letzte Hoffnung"

Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer sieht ein Referendum als einzige reale Chance, Stuttgart 21 zu stoppen - und zieht Analogien zum Transrapid.

Sebastian Beck

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer zählt zu den profiliertesten Politikern der Grünen in Baden-Württemberg. Der 38-Jährige kämpft bereits seit Jahren gegen den Bau von Stuttgart 21.

Demonstration gegen 'Stuttgart 21'

Alles abgeriegelt: Polizisten bewachen die eingezäunte Baustelle von Stuttgart 21.

(Foto: dapd)

SZ: Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof hält es für unzulässig, die Bürger über Stuttgart 21 abstimmen zu lassen. Warum fordern Sie trotzdem weiterhin eine landesweite Volksabstimmung?

Boris Palmer: Herr Kirchhof hat nur den von der SPD vorgeschlagenen Weg zu einem Volksentscheid für unzulässig erklärt - nämlich, dass die Regierung ein Gesetz einbringt, das sie dann selbst ablehnt. Von der SPD beauftragte Verfassungsrechtler sehen das anders. Entscheidend ist aber vielmehr die Frage, ob die Regierung überhaupt dazu bereit wäre, das Volk abstimmen zu lassen.

SZ: Es gibt es aber auch die Möglichkeit, ein Volksbegehren einzuleiten. Dafür braucht man den Landtag nicht.

Palmer: Leider gab es in der Geschichte des Landes kein solches Volksbegehren, weil die Hürde von einem Sechstel der Wahlberechtigten normalerweise viel zu hoch ist. In dieser besonderen Situation ist ein Volksbegehren aber die letzte Hoffnung, wenn die Regierung anders nicht zur Vernunft kommt. Ich will jedenfalls nicht, dass Menschen nur bei der Landtagswahl über Stuttgart 21 abstimmen dürfen. Gegen das Projekt zu sein bedeutet nicht automatisch für Grün zu sein.

SZ: Für beide Varianten wäre ein Vorschlag für ein Ausstiegsgesetz erforderlich. Wie könnte er lauten?

Palmer: Es würde genügen, ein kurzes Gesetz zur Abstimmung zu bringen, in dem die finanzielle Beteiligung des Landes untersagt wird. Da geht es um immerhin 1,7 Milliarden Euro an freien Haushaltsmitteln, die man auch für Bildung einsetzen könnte. Ohne dieses Geld wäre das Projekt am Ende.

SZ: Dem stehen Verträge gegenüber.

Palmer: Ein Ausstiegsgesetz wäre höherrangiges Recht. Die Verträge hätten keine weitere Gültigkeit mehr, weil sie sehr schwach formuliert sind. In der entscheidenden Passage steht lediglich, dass sich das Land bereit erklärt, die finanzielle Beteiligung zu erbringen. Eine Verpflichtung oder eine Schadenersatzforderung sind nirgendwo definiert.

"Man kann Großprojekte durchsetzen, wenn sie im Volk verankert sind"

SZ: Trotzdem muss Baden-Württemberg mit Schadenersatzforderungen rechnen. Die Bahn spricht von bis zu 1,4 Milliarden Euro Kosten für den Ausstieg.

Boris Palmer Tübingen Grüne

Engagiert sich sei langem gegen Stuttgart 21: Tübingens grüner Stadtvater Boris Palmer

(Foto: dpa)

Palmer: Nehmen wir diese Zahl ernst, dann sind darin auch 700 Millionen Euro enthalten, die Stuttgart von der Bahn wegen eines Grundstücksgeschäfts zurück erhalten würde. Das sind keine Ausstiegskosten, hier wird das Geld nur von der linken in die rechte Tasche gesteckt. Es bleiben 700 Millionen Euro echte Kosten übrig; das ist eine Milliarde weniger als das Land Baden-Württemberg bisher für das Projekt zugesagt hat. Selbst wenn der komplette Schaden ersetzt werden müsste, hätte Baden-Württemberg noch eine Milliarde Euro übrig.

SZ: Wäre das nicht ein groteskes Ende nach 15 Jahren Planung?

Palmer: So etwas kommt vor. Auch die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf und der Schnelle Brüter Kalkar waren milliardenteure Fehlinvestitionen, weil man den Bürgerwillen missachtet hat. Die Verantwortung dafür tragen nicht diejenigen, die den Bürgerwillen artikulieren, sondern diejenigen, die Projekte initiieren, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung zu nehmen.

SZ: Bahn-Chef Grube befürchtet, dass kein Großprojekt mehr durchsetzbar sein wird, wenn Stuttgart 21 scheitert.

Palmer: Das Argument gehört zur Kategorie, wonach Stuttgart21 angeblich der Grabstein für die repräsentative Demokratie sei. Das Projekt wird in einer Weise überhöht, dass es mit einem Bahnhof nichts mehr zu tun hat. Natürlich kann man weiterhin Großprojekte durchsetzen, wenn sie gut begründet und in der Bevölkerung verankert sind. Auch nach dem Scheitern des Schnellen Brüters oder des Transrapid wurde noch in Deutschland investiert.

SZ: Nach einem Ausstieg stünde Stuttgart mit einer Baustelle da. Der Bahnhof muss aber saniert werden.

Palmer: Das könnte viel schneller gehen als Stuttgart 21 zu bauen. Es laufen ohnehin schon Vorarbeiten im Gleisbereich. In fünf Jahren könnte ein modernisierter Bahnhof samt Überdachung eingeweiht werden.

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