Tschetschenien:Mittendrin im Feuer

In Tschetschenien wird ein Menschenrechtskomitee angegriffen. Dahinter steckt vermutlich ein Machtkampf zwischen Moskau und Grosny.

Von Julian Hans, Grosny

Die Mitarbeiter des Komitees gegen Folter hatten vorgesorgt, aber mit einem Überfall am helllichten Tag hatten sie nicht gerechnet. Mit Hämmern und Eisenstangen zertrümmerten maskierte Männer am Mittwochmorgen zunächst das Auto der Menschenrechtsvertreter. Dann kletterte einer auf den Balkon im zweiten Stock, zerstörte eine Überwachungskamera und goss Farbe durchs Fenster. Als die Angreifer mit Brechstangen und Schneidbrennern die Stahltüre nicht aufbekamen, durchbrachen sie schließlich mit einem Vorschlaghammer die Wand, stürmten das Büro und verwüsteten die Einrichtung. In letzter Minute retteten sich die vier Mitarbeiter mit einem Sprung aus dem Fenster und flüchteten.

"Wir wussten, dass wir etwa eine halbe Stunde haben, bis sie drin sind" erzählt der Jurist Albert Kusnezow, der die mobile Gruppe der Menschenrechtsschützer in Grosny leitete. Nach einem Brandanschlag im Dezember hatten sie Jalousien aus Stahl vor den Fenstern montiert und eine mehrfach gesicherte Tür einbauen lassen. Versteckte Kameras filmten die Arbeitsräume. Während des Angriffs konnten die Kollegen in der Zentrale des Komitees gegen Folter im 1800 Kilometer entfernten Nischnij Nowgorod auf ihren Bildschirmen verfolgen, was vor sich geht.

"Bisher ist kein einziger Täter zur Rechenschaft gezogen worden", sagt ein Bürgerrechtler

Die mobile Gruppe dokumentiert Fälle, in denen Menschen verschleppt, gefoltert und getötet wurden. Sie arbeitet seit dem Ende des zweiten Tschetschenien-Kriegs 2009 in der Republik im Nordkaukasus. In letzter Zeit wechselten sich die Mitarbeiter ab: Die Juristen verbrachten immer nur einige Wochen in Tschetschenien, dann lösten Kollegen sie ab. Doch trotz dieser Sicherheit steht seit Mittwoch in Frage, ob die Arbeit vor Ort fortgesetzt werden kann. Vorerst haben Kusnezow und seine Kollegen die russische Teilrepublik verlassen.

Mindestens fünf Fälle seien so weit aufgeklärt, dass eigentlich nur noch ein Richter sich die Akten vornehmen und ein Urteil fällen müsse, sagt Kusnezow. "Aber bisher ist kein einziger Täter zur Rechenschaft gezogen worden". Die Juristen stellen sich daher von vornherein auf einen Marathon ein: Da nicht damit zu rechnen sei, dass die Behörden in Tschetschenien gegen Täter aus ihren Reihen vorgehen, bringen die Menschenrechtler die Fälle durch die Instanzen, bis Gerichte auf föderaler Ebene sich damit befassen müssen. "Als letzte Hoffnung bleibt uns oft nur der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte", sagt Kusnezow. "Aber die Strafen, die dort verhängt werden, muss der russische Staat zahlen. Den Verantwortlichen in Tschetschenien macht das nichts aus".

Der Leiter des Komitees gegen Folter, Igor Kaljapin, kündigte an, die Organisation werde auch künftig daran arbeiten, Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aufzuklären. Allerdings sei es ungewiss, ob weiterhin ein Büro in Grosny unterhalten werden könne, sagte er dem Sender Radio Svoboda. Seit 2009 haben die Juristen nach eigener Auskunft Dutzende Fälle bearbeitet. "In allen sind Personen verwickelt, die in Tschetschenien als absolut unantastbar gelten", sagte Kaljapin.

Dass ein konkreter Fall in ihrer Arbeit zu dem Angriff führte, halten die Menschenrechtler nicht für wahrscheinlich. Die ständigen Eingaben und Klagen störten zwar die Behörden, am Ende sei aber bislang niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Wahrscheinlicher ist, dass die Gruppe in den wachsenden Spannungen zwischen Moskau und Grosny unter die Räder geraten ist.

Seit dem Mord an dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow ist ein Konflikt zwischen Geheimdienst und Ermittlungskomitee in Moskau und dem Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow offen zutage getreten. Die Spuren, die die Ermittler in Moskau präsentierten, führen direkt in die Nordkaukasus-Republik zu Kämpfern des Bataillons "Sewer", das zwar formell dem Innenministerium unterstellt ist, wie alle Strukturen in Tschetschenien faktisch aber nur den Befehlen Kadyrows folgt.

Mehrere Zeitungen und Internet-Portale, die dem Kreml und dem Geheimdienst eigentlich kritisch gegenüberstehen, hatten so detailliert über den Ermittlungsstand berichtet, dass man davon ausgehen musste, dass die Informationen gezielt von den Behörden weitergegeben wurden. Nachdem in der vergangenen Woche die Stiftung Offenes Russland einen Film mit dem Titel "Die Familie" veröffentlichte, der die Herrschaft Kadyrows anklagte, erschien in dieser Woche in der Wirtschaftszeitung Kommersant ein großer Artikel über die Kadyrow-Stiftung, die für Bedürftige wenig tue, aber Geld an Günstlinge verteile und die vom Gesetz verlangten Rechenschaftsberichte gar nicht erst abgebe.

Während Offenes Russland vom ehemaligen Öl-Unternehmer Michail Chodorkowskij unterstützt wird, gehört der Kommersant Alischer Usmanow, einem Geschäftsmann, der dem russischen Präsidenten Wladimir Putin stets treu war. Im Wettbewerb um die Gunst Putins fühlte sich Kadyrow daher offenbar einer Kampagne ausgesetzt. Eigentlich war für den Mittwoch eine Demonstration gegen die "verleumderischen" liberalen Medien angesagt gewesen. Doch die wurde abgesagt. Stattdessen wurde das Komitee gegen Folter das Ziel, auf dessen Aussagen sich große Teile des Films über die "Familie" bezogen hatte.

Dazu, dass der 38 Jahre alte Kadyrow seit mehr als einem halben Jahr neben dem Krieg in der Ukraine die russischen Nachrichten bestimmt, hat er allerdings selber rege beigetragen. Es begann nach einer Attacke von Terroristen auf das Haus der Presse in Grosny Anfang Dezember am Tag, als Putin in Moskau seine Rede an die Nation hielt. Kadyrow rief dazu auf, die Häuser der Angehörigen der Täter niederzubrennen und die Familien aus Tschetschenien auszusiedeln, was wenig später auch geschah. Auf diesen offensichtlichen Bruch russischer Gesetze angesprochen, versprach Putin eine Untersuchung, die bislang keine Ergebnisse gebracht hat. Anzeigen gegen Kadyrow wegen des Aufrufs zu Gewalt blieben ohne Folgen.

In viele Fälle sind Personen verwickelt, die in Tschetschenien als unantastbar gelten

Als im April eine Spezialeinheit aus Stawropol bei einem Festnahmeversuch in Grosny den Verdächtigen Dschambulat Dadajew erschoss, befahl Kadyrow seinen Sicherheitsorganen, künftig auf Polizisten aus anderen Gebieten Russlands zu schießen, wenn diese ohne seine Genehmigung in Tschetschenien operierten. Die Behörden wies er an, wegen der Tötung Ermittlungen einzuleiten. Als der Chef des russischen Ermittlungskomitees in Moskau anordnete, die Ermittlungen einzustellen, ließ Kadyrow sie wieder aufnehmen.

Bevor die Maskierten am Mittwoch das Büro der Menschenrechtsgruppe stürmten, hatten sich mehrere Hundert Demonstranten vor dem Büro eingefunden, überwiegend Frauen. Sie forderten, die Menschenrechtler sollten bitte auch wegen des Todes von Dadajew tätig werden und nicht einseitig die tschetschenische Polizei anschwärzen.

Im sozialen Netzwerk Instagram erklärte Kadyrow am Mittwochabend, der "Vorfall" werde untersucht. "Jegliche gesetzwidrige Handlungen, wie auch immer sie motiviert seien", würden nicht geduldet. Seine Version, welche Motivation hinter dem Überfall stehen könnte, fügte Kadyrow gleich hinzu: Die Menschenrechtsanwälte selber hätten den Angriff provoziert, um Geld aus Amerika zu bekommen.

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