Tschetschenien:Brutstätte der Gewalt

Noch ist nichts bekannt über die Motive der mutmaßlichen Täter von Boston. Hat ihre Herkunft damit zu tun? Die Brüder Zarnajew wären nicht die ersten tschetschenischen Attentäter im Westen. Nur die ersten, die eine Tat dieses Ausmaßes verübt hätten.

Von Sonja Zekri und Frank Nienhuysen

Es war das verdächtige Interesse an einem Gleitflug über Gibraltar, das die Zelle auffliegen ließ. Die beiden Tschetschenen Muhammed Adamow und Eldar Magomedow hatten gemeinsam mit dem Türken Cengiz Yalcin einen Anschlag auf eine Shopping-Mall an der britischen Südspitze Spaniens geplant. Ein Fluglehrer schöpfte Verdacht, weil Yalcin das Gelände "um jeden Preis" aus der Luft fotografieren wollte. Die Tschetschenen wurden 2012 auf der Flucht nach Frankreich gefasst.

Alle drei bestritten, Mitglieder von al-Qaida zu sein. Spanische Behörden aber glauben genau dies. Magomedow, der Anführer, war einst Angehöriger der Speznas, einer russischen Spezialeinheit, trainierte später in islamistischen Militärlagern in Afghanistan und Pakistan. Adamow, sein Komplize, lernte das Handwerk des Bombenbauens in Afghanistan und soll an Anschlägen in Moskau beteiligt gewesen sein.

Sollte sich bestätigen, dass die Brüder Dschochar und Tamerlan Zarnajew den Anschlag auf den Boston-Marathon verübt haben, als Einzeltäter oder aber als Angehörige eines größeren Netzwerks, wären sie nicht die ersten tschetschenischen Attentäter im Westen. Sie wären nur die ersten, die eine Tat dieses Ausmaßes verübt hätten.

Noch ist nichts bekannt über die Motive, sollten die Zarnajews die Täter sein. In Tschetschenien allerdings weist man schon jetzt jeden Zusammenhang zwischen der Gewalt im Kaukasus und den Anschlägen in Boston zurück. Die Brüder seien im Ausland aufgewachsen, sagte Alvi Karimow, der Sprecher des autokratischen Präsidenten Ramsan Kadyrow: "Falls sie zu Schurken geworden sind, solle man damit jene Leute konfrontieren, die sie aufgezogen haben." Und doch gibt es Beispiele, dass sich islamistische Militante erst fern der Heimat radikalisieren, ja, dass der Dschihad womöglich gerade als umso zwingender erlebt wird, je größer der Unterschied zwischen dem eigenen ruhigen Leben und dem Kampf am anderen Ende der Welt erscheint.

Tschetschenien: Tschetschenischer Präsident Ramsan Kadyrow: Recht des Stärkeren

Tschetschenischer Präsident Ramsan Kadyrow: Recht des Stärkeren

(Foto: AFP)

Der Al-Qaida-Ideologe Anwar al-Awlaki etwa wurde als Sohn jemenitischer Eltern in New Mexico geboren und hatte Jahrzehnte in den USA gelebt, ehe er nach Jemen reiste, wo ihn vor zwei Jahren eine US-Drohne tötete. Wie Afghanistan oder später der Irak war auch Tschetschenien ein Ziel ausländischer Kämpfer, eine frühe Arena des internationalen Dschihad, wie man ihn heute in Syrien oder in Jemen beobachtet. Insofern ist es kein Wunder, dass Tschetschenen heute nach Syrien ziehen, der aktuellen Top-Destination für Dschihadisten.

Aber die Kämpfer aus dem Kaukasus sind nicht nur aufgebrochen aus ihrer Heimat, um für den internationalen Dschihad zu kämpfen. Der Terror findet auch immer noch in ihrer Heimatregion statt. Machatschkala, Dagestan, russischer Kaukasus. Der Ort, in dem die beiden Verdächtigen aus Boston einen Teil ihrer Kindheit verbrachten, hat in den vergangenen Jahren Tschetschenien als Hauptkampfplatz abgelöst. Kaum ein Tag vergeht ohne den Einsatz von Spezialkräften, ohne gesprengte Bombensätze und wilde Schusswechsel.

Russland will Ordnung schaffen in der Region, aber das, was die Menschen erleben, was vor allem die älteren Kinder und jungen Erwachsenen spüren, ist das Recht des Stärkeren. Erst am Freitagmorgen hat sich das gefürchtete tschetschenische Oberhaupt Ramsan Kadyrow dieses Recht genommen: 300 Mitarbeiter des Innenministeriums überquerten mit gepanzerten Wagen und unter dem Vorwand einer Spezialoperation die Grenze zur Republik Inguschetien. Es ging in dem kleinen Dorf angeblich um die Festnahme eines Terroristen, aber es ging wohl auch um Grenzstreitigkeiten und um Machtdemonstration.

Kadyrow hat diese Macht in Tschetschenien gezeigt. Dort, wo zwei blutige russisch-tschetschenische Kriege um Unabhängigkeit stattfanden, hat Kadyrow mit seiner Willkürherrschaft und mit Unterstützung und Geld aus Moskau die Lage einigermaßen unter Kontrolle. Aber Anschläge gibt es noch immer. Und die Grenzen im gebirgigen Kaukasus sind durchlässig. Nun ist Dagestan Mittelpunkt der Gewalt. Etwa 70 Prozent aller Gewaltakte, die Russlands Regierung als terroristisch einstuft, werden dort verübt.

Kampf für ein Kalifat

Grund dafür ist ein gefährlicher Cocktail aus extrem hoher Arbeitslosigkeit, fehlender Zukunftsperspektive und der Radikalisierung der Islamisten, die ein leichtes Spiel haben, die Jugendlichen zu beeinflussen. Denn Korruption und der sehr späte Beginn einer Wirtschaftspolitik für die Region haben Moskaus Versuche scheitern lassen, die Gewalt im Süden einzudämmen.

Doku Umarow ist der selbsternannte Anführer der islamistischen Terroristen im Nordkaukasus. Praktisch kämpfen extremistische Islamisten offenbar in kleineren Gruppen und relativ unabhängig voneinander. Umarow aber gibt den Ton an, stellt sich als Spiritus Rector dar, der die Verantwortung für die schwersten Anschläge der vergangenen Jahre in Russland auf sich genommen hat: die Selbstmordanschläge auf die Moskauer Metro, die Attacke auf den Moskauer Flughafen Domodedowo.

Längst haben sich die Ziele geändert. Es geht nicht mehr um eine Unabhängigkeit Tschetscheniens, es geht um ein Kalifat vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer. Denn vor allem die Muslime im entfernten zentralrussischen Tatarstan, einer Hochburg des Islam, sind verstärkt den Anwerbeversuchen radikaler Salafisten ausgesetzt. Jana Amelina, Kaukasus-Expertin am Russischen Institut für strategische Forschung, zitierte einen Ideologen des nordkaukasischen Dschihad mit den Worten: "Allah hat uns befohlen, unter seinem Schariat zu leben, und nur mit Gewehren, die die Gegner des Schariats vernichten, können wir seinen Willen erfüllen."

Die russische Regierung hat deshalb Grund zur Sorge, und durch den Anschlag in Boston ist sie noch einmal größer geworden. Vielleicht weniger deshalb, weil die möglichen Attentäter vor vielen Jahren im eigenen Land lebten, sondern weil das Ziel, der Marathonlauf, Moskau an bevorstehende Wettkämpfe erinnert: die Leichtathletik-Weltmeisterschaft im August, die Olympischen Spiele in Sotschi, direkt am Fuße des Kaukasus. "Die USA haben einen der stärksten Anti-Terror-Dienste der Welt", sagte Sicherheitsexperte Sergej Karaganow, "und so läuten die Glocken von Boston auch für uns."

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