Exzesse gegen Sudetendeutsche:Als das Pendel der Gewalt zurückschlug

Sudenten Deutsche Tschechen Rache 1945 Foto: Privatarchiv J. H. Hasenöhrl

Rache an den Besiegten: Auf diesem Foto vom Frühsommer 1945 posieren tschechische Gardisten, die Sudetendeutsche abführen.

(Foto: Privatarchiv J. H. Hasenöhrl)

Bislang galt in Tschechien die Gewalt gegen Sudetendeutsche nach Kriegsende als Tabuthema. Das ändert sich. Ein Beispiel ist das Massaker im Elementenwald im Juni 1945.

Klaus Brill

Der Alte war damals ein Junge von 16 Jahren, und er befand sich mit dem Vater auf dem Hof, als die Männer kamen. Karel Srp war ihr Anführer. "Er hatte eine Pistole im Gürtel stecken und die Jacke so aufgeschlagen, dass man die Waffe sah", so erinnert sich der Mann, der heute 81 Jahre zählt. Karel Srp hatte auch einen Schlüssel dabei, er zeigte ihn dem Vater und wollte wissen, in welches Schloss der passen würde. Er schlug den Vater, und dann nahmen sie diesen mit, und das Bild, das sich dem Jungen einprägte, ist das des Vaters, wie er auf der Ladefläche des abfahrenden Lastwagens stand. Ein paar Tage später hörte man im Dorf die Schüsse, die vom Wald her kamen, und dann wurde der Junge mit den anderen geholt, um die beiden Massengräber auszuheben.

An jenem Tag, es war der 7. Juni 1945, wurden auf einem Acker am Elementenwald bei Podersam (Podbořany) im Saazer Land in Nordböhmen 68 Männer umgebracht, Sudetendeutsche. Und an diesem Mittwoch, mehr als 65 Jahre danach, wird sich die tschechische Bevölkerung mit diesem Vorgang beschäftigen. In einer Serie von Sendungen präsentiert der Tschechische Rundfunk das Thema vor einem großen Publikum. Es ist ein weiterer Mosaikstein der seit Monaten immer intensiver werdenden Auseinandersetzung mit der Vertreibung der drei Millionen Sudetendeutschen, die 1945 auf die Untaten des kollabierten Nazi-Systems folgte.

Zu den Vertriebenen gehörte auch der alte Mann, der in seinem Wohnzimmer in einer Stadt in Bayern auf der Couch sitzt und erzählt. Er hat gebeten, seinen Namen nicht zu nennen. Seine Jugend hat er in Groß-Otschehau (Očihov) verbracht, einem knapp 1000 Einwohner zählenden Dorf bei Podersam, das wie fast alle Orte dieser Gegend bis 1945 zu 95 Prozent von Sudetendeutschen bewohnt war. Es gab nur zwei tschechische Familien im Dorf, eine war die Familie Srp. Karel Srp, 1916 geboren, spielte als Kind mit deutschsprachigen Altersgenossen, als junger Mann verschwand er in Richtung Prag, noch ehe das Nazi-Regime am 1. Oktober 1938 auf der Basis des Münchner Abkommens das Sudetenland ans Deutsche Reich angliederte.

1945, nach dem Ende der NS-Herrschaft, war Srp wieder zurück in Groß-Otschehau "und spielte den Bürgermeister", wie der Alte sagt. Srp war nach Auskunft verschiedener Zeitgenossen eine jähzornige, despotische Natur, und so führte er sich auch am 7. Juni 1945 auf. Vertriebene Sudetendeutsche, unter ihnen Eduard Fickert aus Groß-Otschehau, der später in Gründau in Hessen lebte, berichteten, an jenem Tag habe eine Gruppe tschechischer Gardisten, gekleidet in Uniformen des Deutschen Afrika-Corps, in Podersam 68 inhaftierte Sudetendeutsche aus dem örtlichen Gefängnis zum Elementenwald geführt und dort auf dem Feld ermordet.

Im Nachbardorf Groß-Otschehau rief man danach Männer und Halbwüchsige herbei, um die Toten in zwei Massengräbern zu beerdigen. Eduard Fickert war unter diesen unfreiwilligen Helfern, und seinem schriftlichen Bericht zufolge hat damals Karel Srp als Anführer der Gardisten gerufen, die toten Männer hätten ausreißen wollen, "und wenn ihr euch drückt oder nicht arbeiten wollt, ergeht es euch genauso". Es wurden zwei Gräber geschaufelt, dann zog man den Toten die Kleider aus, schichtete die Leichen aufeinander in die Grube und bedeckte sie mit Erde.

Zu den Helfern gehörte auch der 16-jährige Junge, er ist heute der einzige noch lebende Zeuge. "Man hat gedacht, wenn das Loch fertig ist, dann kriegen wir eine Kugel in den Kopf und fallen in das Loch hinein", sagte der Alte im Gespräch mit Reportern der Süddeutschen Zeitung und des Tschechischen Rundfunks. Was er damals nicht ahnte und erst später erfuhr: unter den Männern aus Podersam, Groß-Otschehau, Kriegern (Kryry) und anderen Dörfern der Umgebung, die da verscharrt wurden, war sein eigener Vater.

Die Zahl der Opfer steht nicht exakt fest. Sudetendeutsche sprechen von 68 Personen, eine 69. ist angeblich entkommen. Teilweise ist auch von 84 Toten die Rede, und ein Geheimbericht der tschechoslowakischen Staatssicherheitsbehörden aus dem Jahre 1947, der sich heute im Staatsarchiv befindet, spricht von 70 Personen. Sie seien zumeist SS-Angehörige gewesen und von sowjetischen Soldaten erschossen worden. Unter den späteren tschechischen Bewohnern der Umgebung erzählte man sich nach Angaben eines Heimatforschers, die Gefangenen, die allesamt Nazi-Funktionäre gewesen seien, hätten nach Pilsen ins Gefängnis gebracht werden sollen, am Elementenwald aber fliehen wollen und seien erschossen worden.

Tatsächlich waren Nazi-Funktionäre unter den Opfern. Eine zufällig gewählte Stichprobe ergab jetzt bei Überprüfung durch das Bundesarchiv in Berlin, dass höchstwahrscheinlich sieben von neun ausgewählten Personen Mitglieder der NSDAP waren, unter ihnen der Bürgermeister und der Ortsgruppenleiter von Groß-Otschehau. Ein achter gehörte nach anderen Quellen der SS an, offenbar waren noch weitere SS- und SA-Mitglieder unter den 68 Toten. Indes war im Sudetenland der Organisationsgrad der NSDAP bekanntlich der höchste im ganzen Reich. Dies rührte daher, dass in der überhitzten Atmosphäre des Nationalitätenkampfs bis Herbst 1938 etwa 1,3 Millionen Sudetendeutsche, teils unter Druck, der Sudetendeutschen Partei des Turnlehrers Konrad Henlein beitraten und später in Massen in die NSDAP übernommen wurden.

Massaker ist bis heute strafrechtlich nicht aufgeklärt

Henlein und seine Anhänger, die demonstrativ in weißen Socken und Kniestrümpfen auftraten und auch Straßenterror verbreiteten, arbeiteten Hitler in die Hände und jubelten, als 1938 der Anschluss kam. In Podersam versammelten sich über 10.000 Menschen, im nahen Saaz (Žatec) über 30.000. Ihre Begeisterung resultierte aus dem Empfinden fast aller Sudetendeutschen, massiv benachteiligt worden zu sein. Tatsächlich wurde die von der tschechoslowakischen Regierung versprochene Selbstverwaltung nie gewährt, im öffentlichen Dienst wurden zahlreiche deutschsprachige Beamte durch Tschechen ersetzt, die Arbeitslosigkeit war im Sudetengebiet besonders hoch.

Sudetendeutsche Massaker Podborany Privatarchiv J. H. Hasenöhrl

Nahe der Stadt Podbořany wurde 2003 nach den Überresten von Opfern eines Massakers gesucht.

(Foto: Privatarchiv J. H. Hasenöhrl)

Nach dem Anschluss 1938 kehrten sich die Machtverhältnisse um. Viele Tschechen ergriffen die Flucht, ebenso viele sudetendeutsche Juden, die dann auch verfolgt wurden. Die Podersamer NSDAP-Kreisleitung meldete, wie der aus Kriegern stammende Harald Richter in einer Ortsgeschichte schreibt, schon Anfang 1940 an die Gauleitung: "Juden sind so viel wie nicht mehr vorhanden." Ziel sei es auch, den Kreis "möglichst bald von allen tschechischen Elementen frei zu machen". Ehe 1945 das NS-Regime zusammenbrach, sollen in der Region ferner 230 ausländische Zwangsarbeiter, die unterwegs zum KZ Theresienstadt waren, von NS-Schergen erschossen worden sein.

Nach Kriegsende schlug das Pendel wieder in die Gegenrichtung aus, es folgten Gewaltakte gegen Sudetendeutsche und "wilde Vertreibungen". Das Massaker am Elementenwald soll nach der Schilderung sudetendeutscher Zeitzeugen seinen Ausgang am 7. Juni 1945 im Hotel Sonne in Podersam genommen haben, wo Tschechen beim Trinken zusammensaßen. Einer, aus Kladno kommend, habe gegenüber dem anwesenden Leiter des örtlichen Gefängnisses erklärt, er habe drei Jahre zuvor beim Massaker der Deutschen in Lidice (340 Tote) einen Neffen verloren, "gib mir hundert Deutsche dafür". Darauf der: "Achtundsechzig habe ich, die kannst du haben." Sie wurden zum Elementenwald gebracht.

Der Vorgang ist bis heute strafrechtlich nicht aufgeklärt, da solche Taten in den Dekreten des 1945 ins Amt gekommenen Präsidenten Edvard Beneš straffrei gestellt wurden. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im fränkischen Hof wurden 1998 ergebnislos eingestellt. Unermüdlich hat indes der aus Podersam stammende, heute 83-jährige Josef Hasenöhrl aus Frankfurt/Main über Jahrzehnte hin mit erheblichem Aufwand versucht, Licht in die Sache zu bringen. Nach langwierigen Antragsverfahren erhielt er die Genehmigung, auf dem Feld am Elementenwald mit einem Bagger Sondierungsgrabungen vornehmen zu lassen, und tat dies im Oktober 2003. "Außer Spesen nichts gewesen", stellt er enttäuscht fest. Die sterblichen Überreste konnten nicht gefunden werden, womöglich wurden sie in den fünfziger Jahren weggebracht. Immerhin hat Hasenöhrl nach eigenen Worten von einem Tschechen gegen die Zahlung von Geld erfahren, dass dieser damals als 18-Jähriger bei dem Massaker dabei gewesen sei und dass es ihm heute leid tue.

Der mögliche Mittäter Karel Srp aus Groß-Otschehau ist 2006 im Alter von 90 Jahren verstorben. Allerdings förderte jetzt der Reporter Pavel Polák vom Tschechischen Rundfunk ein interessantes Detail aus seiner Biographie zutage, das erklären könnte, warum Srp 1945 so rabiat auftrat. Seine Stieftochter sagte, in der Familie habe man Srp als "Gestapo-Mann" bezeichnet, weil der sich in der Nazi-Zeit mit den Deutschen so gut verstanden habe. Aus anderen Fällen ist bekannt, dass manches Verbrechen an Sudetendeutschen von tschechischen Kollaborateuren des NS-Systems verübt wurde, die sich so gegenüber ihren Landsleuten reinzuwaschen hofften.

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