Treffen in Tallinn:Leise, unsichtbar und massiv

Die EU-Verteidigungsminister lernen am Tablet, welchen digitalen Gefahren die Sicherheit Europas ausgesetzt ist. Wer so einen Cyber-Angriff starten könnte, wird aber nicht präzisiert.

Von Daniel Brössler, Tallinn

Der Angriff kommt scheinbar aus dem Nichts. Plötzlich funktionieren die Systeme in einem EU-Hauptquartier in Rom nicht mehr richtig. Betroffen sind auch die Schiffe aus verschiedenen Staaten, die im Mittelmeer unterwegs sind, um Menschenschmugglern das Handwerk zu legen. Die Sicherheit auf See ist in Gefahr; die Europäische Union muss handeln. In einer eilig anberaumten Sitzung sollen die Verteidigungsminister der EU-Staaten sich auf das weitere Vorgehen verständigen.

Die Szenario ist fiktiv, die Gefahr nach Auffassung der estnischen EU-Präsidentschaft aber real. Sie hat ein informelles Treffen der Verteidigungsminister am Donnerstag in Tallinn genutzt, um den Ernstfall das erste Mal auf dieser hohen politischen Ebene zu üben. "Wir wollen keine Programmierer aus den Ministern machen, aber wir wollen, dass sie verstehen, dass diese sich schnell entwickelnden Situationen schnelle politische Entscheidungen erfordern", sagte der estnische Verteidigungsminister Jüri Luik.

Jose Alberto Azeredo Lopes, Andreja Katic, Jens Stoltenberg, Ursula von der Leyen

Bundesverteidigungsministerin von der Leyen trifft im Kreise europäischer Kollegen auf Nato-Generalsekretär Stoltenberg (zweiter von rechts).

(Foto: Liis Treimann/AP)

Für die Übung namens "EU-Cybrid 2017" wurden den Verteidigungsministern Tabletcomputer auf den Tisch gelegt. Im Verlauf der 90-minütigen Übungen mussten sie immer wieder darüber abstimmen, wie sie weiter vorgehen würden - im Ernstfall. Die Hauptfrage lautete: Klappt die Koordinierung? Das Abstimmungsverhalten und der Verlauf der Übung sollten geheim bleiben. Selbst das von Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen als "durchaus realistisch" eingestufte Szenario im Mittelmeer sollte ursprünglich unter Verschluss bleiben. Es sprach sich dann aber doch recht schnell herum. "Eine ausgesprochen spannende Übung" sei das gewesen, lobte von der Leyen.

"Neu und anders" sei die Herausforderung, mit der man es da zu tun habe: "Der Angriff ist leise, unsichtbar, aber er ist dann mit aller Massivität spürbar, wenn er seine volle Wirkung entfaltet." Sehr schwer zu identifizieren sei der Gegner, er benötige wenig Geld, "keine Armeen", sondern nur einen Computer, einen Internetanschluss und Kenntnisse im Programmieren. Ganz neu ist diese Erkenntnis nicht. Seit einiger Zeit schon versuchen die Staaten der Nato und der EU, sich auf die militärischen Gefahren im Cyberraum einzustellen. Beim Nato-Gipfel in Warschau 2016 vereinbarten die Nordatlantik-Allianz und die EU eine enge Kooperation gerade in diesem Bereich. Bei der Übung in Tallinn saß Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg als Beobachter mit am Tisch. Die EU wird bei der Nato-Übung "Cyber Coalition" in wenigen Wochen dabei sein.

Treffen in Tallinn: Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini bei dem Treffen in Tallinn.

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini bei dem Treffen in Tallinn.

(Foto: Raigo Pajula/AFP)

Um 60 Prozent hätten die Angriffe auf Nato-Netzwerke im vergangenen Jahr zugenommen, sagte Stoltenberg. Um gegen sie gewappnet zu sein, komme es darauf an, schnell Informationen auszutauschen und die Verfahren zu harmonisieren.

Ministerin von der Leyen sieht in Estland das am meisten vernetzte Land Europas

Offen bleiben sollte in Tallinn, von wo genau ein Angriff kommen könnte. Eine "spezifische Gruppe", die als Gegner ausgemacht worden sei, gebe es nicht, sagte Stoltenberg. Man müsse Freunde und Verbündete gegen jedweden "Cyber-Angriff" schützen können. Was das bedeutet, wirft Fragen auf, die in Deutschland etwa Abgeordnete der Linken in einer kleinen Anfrage ans Verteidigungsministerium gestellt haben: Sie wollten wissen, ob sich "die Cyberübung auch oberhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffes bewegt". Über den genauen Übungsverlauf wollten die estnischen Organisatoren nichts sagen, stellten allerdings klar, dass offensive Szenarien nicht durchgespielt worden seien. Man bewege sich ausschließlich im "existierenden Rahmen", versicherte Erki Kodar vom estnischen Verteidigungsministerium. In diesem Rahmen ist bislang weder bei der EU noch in der Nato die Fähigkeit zu offensivem Vorgehen vorgesehen.

Die Esten selbst verbuchten die Übung als Erfolg. Das kleine baltische Land profiliert sich als digitale Supermacht. Ende des Monats richtet es einen Digitalgipfel aus, zu dem Staats- und Regierungschefs aus zahlreichen EU-Ländern erwartet werden. "Estland ist das mit Sicherheit am meisten vernetzte und digitalisierte Land innerhalb Europas", sagte von der Leyen. Da könne man die "gewaltigen Vorteile" der Digitalisierung sehen, aber auch die "Verletzlichkeit". In der Tat musste Estland kürzlich zerknirscht eine Sicherheitslücke in seiner gefeierten E-Karte für alle Lebenslagen einräumen.

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