Transrapid-Unglück:Fahrberichte auf einer DIN-A4-Kladde

Die Rekonstruktion des Unfalls ist schwer, weil Arbeitsabläufe nur unvollständig dokumentiert sind - und auf eine erstaunlich altmodische Weise.

Michael Bauchmüller und Ralf Wiegand

Der Vorwurf lautet: fahrlässige Tötung. Deswegen ermittelt nun die Staatsanwaltschaft Osnabrück im Emsland, wo am Freitag 23 Menschen starben, als ein Magnetschwebezug auf der Teststrecke in ein Reinigungsfahrzeug raste. Allerdings weiß die Staatsanwaltschaft noch nicht, an wen sie diesen Vorwurf richten soll. Die Ermittlungen richteten sich daher generell gegen alle Verantwortlichen für die Todesfahrt, also unter anderem gegen das Personal der Leitstelle und die Zugbesatzung, sagte Alexander Retemeyer von der Staatsanwaltschaft Osnabrück am Montag in Lathen. Besonders schwer sind offenbar die Abläufe im Zug zu rekonstruieren.

Transrapid

Schwierige Ermittlungen: die Unfallstelle am Montag

(Foto: Foto: dpa)

Die Testfahrten im Emsland wurden erstaunlich altmodisch dokumentiert: In der Leitstelle lag eine DIN-A4-Kladde, in der das Personal Abfahrtzeiten, Zugnummern und Rangiermanöver handschriftlich eintrug. Auch an Bord des T08, des Hochgeschwindigkeitszugs, der als Technik von morgen annonciert wird, gab es handschriftliche Protokolle der Arbeitsabläufe. Den Funkverkehr, noch immer nicht ausgewertet, zeichnete ein Gerät auf, "das uns etwas altersschwach erscheint, sodass wir fürchteten, es sei vielleicht gar nichts zu hören", so Retemeyer. Die Anlage nahm Gespräche auf acht verschiedenen Spuren auf Kassetten auf - je nach Funkkanal mal auf der einen, mal auf der anderen Spur. Entsprechend kompliziert ist die Rekonstruktion des chronologischen Gesprächsverlaufs zwischen Transrapid, Leitstelle und Werkstattfahrzeug, das wiederum seine Fahrt auf einer Diagrammscheibe, einer Art Fahrtenschreiber, aufzeichnete. Sie wurde ebenso sichergestellt wie ein Diagnosegerät im Transrapid. Welche Daten dies enthält, ist unklar.

Wo waren die Zugführer?

Vor allem ist völlig offen - und wird es womöglich bleiben -, wo sich die entscheidenden Personen im Zug während des Unfalls befanden. Durch den Zusammenstoß mit dem 60 Tonnen schweren Servicewagen ist der vordere Zugteil völlig zerstört worden. Ob die beiden Zugführer, die im vorderen Führerstand Position beziehen sollten, dort tatsächlich saßen, wird womöglich nicht mehr zu klären sein, sagte der Staatsanwalt. Beide kamen um, die Leiche eines der Zugführer wurde am Montag obduziert. Die Verletzungen hätten darauf hingedeutet, dass sich dieser Mann ganz vorne im Zug aufgehalten haben könnte, hieß es. Durch die Obduktion, deren Ergebnis noch nicht vorlag, soll unter anderem geklärt werden, ob der Mann noch beizeiten hätte reagieren können.

Die Betreibergesellschaft habe die Todesfahrt als "manuelle Fahrt" bezeichnet, sagte Retemeyer. Demnach habe die Leitstelle das Fahrzeug nicht allein in Bewegung setzen können; an Bord waren also zusätzliche Maßnahmen notwendig. Welchen Einfluss die Zugführer auf die weitere, weitgehend automatisierte Fahrt hatten, sei noch nicht geklärt. Über die Sicht am Unfalltag soll ein Gutachter vom Deutschen Wetterdienst Aufschluss geben. Die Unfallstelle ist vom Startpunkt des Transrapids, dem Besucherbahnhof, zu sehen. Bei klarer Sicht hätten die Zugführer den Werkstattwagen, den Retemeyer als "groß wie ein Scheunentor" beschreibt, wahrscheinlich schon beim Start sehen können. Warum sind sie dennoch gestartet - oder haben nicht wenigstens früher gebremst? Auch beim Versuchsstrecken-Betreiber IABG herrscht darüber Ratlosigkeit. "Wir können uns bis heute nicht erklären, warum die Zugführer erst so spät den Zwangshalt einleiteten, warum die ganze Kommunikation mit der Leitstelle nicht klappte", sagt eine Sprecherin des Münchner Unternehmens.

Ein Kilometer Bremsweg

Der Führerstand ist voll ausgerüstet, um den Zug zu steuern, sofern er nicht vollautomatisch oder von der Leitzentrale aus betrieben wird - inklusive Notbremse. Doch der Bremsweg ist lang: Hätten die Zugführer den 170 Stundenkilometer schnellen Transrapid vor dem Hindernis zum Stehen bringen wollen, hätten sie einen Kilometer vorher die Notbremse betätigen müssen, sagt der Berliner Verkehrswissenschaftler Peter Mnich. Er war selbst von 1984 bis 1988 Betriebsleiter der Versuchsstrecke. Seiner Meinung nach sei wohl das erste Gebot des Eisenbahnverkehrs gebrochen worden, sagt Mnich. Und das heißt: "Strecke ist frei".

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