Transplantationen:Der nächste Skandal

Am Uniklinikum Essen soll es Verstöße bei Lebertransplantationen gegeben haben - und das, obwohl der Transplantationsskandal von 2012 sogar zu Gesetzesänderungen geführt hatte.

Von Christina Berndt

Die für die Überwachung des Transplantationssystems zuständige Prüfungs- und Überwachungskommission (PÜK) wirft dem Universitätsklinikum Essen Regelverstöße bei Lebertransplantationen vor. An dem Klinikum sollen, wie die SZ aus informierten Kreisen erfuhr, in den Jahren 2012 bis 2015 mindestens 25 Spenderlebern entgegen den Richtlinien transplantiert worden sein. Besondere Brisanz haben die Regelverstöße, weil sie zum großen Teil nach 2012 erfolgt sind - also nach Bekanntwerden des Transplantationsskandals und der daraufhin erfolgten Gesetzesänderung, wonach Verstöße gegen die Richtlinien mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden können.

In monatelangen Prüfungen hatte die Kommission, die im Auftrag von Bundesärztekammer, Krankenhausgesellschaft und dem GKV-Spitzenverband arbeitet, die Lebertransplantationen in Essen untersucht. Erste Unstimmigkeiten waren im Mai 2016 bei Routinekontrollen aufgefallen. SZ-Informationen zufolge hat das Klinikum seither versucht, die Vorwürfe auszuräumen; die Kommission beschloss jedoch am vergangenen Dienstag, die Vorgänge als Verstöße zu werten und die Staatsanwaltschaft Essen zu informieren.

Den Vorwürfen zufolge sollen alkoholkranke Patienten eine Spenderleber erhalten haben, obwohl sie nicht lange genug abstinent waren. Darüber hinaus soll Patienten eine Leber transplantiert worden sein, obwohl diese einen Leberkrebs hatten, der bereits zu groß war oder aus zu vielen Herden bestand, als dass eine Transplantation nach den Richtlinien statthaft gewesen wäre. Und schließlich sollen Lebern aus dem "beschleunigten Vermittlungsverfahren" illegitim auf andere Patienten umgewidmet worden sein. In dieses Verfahren kommen Spenderlebern, die aufgrund ihrer Organqualität bereits von mehreren Kliniken abgelehnt wurden. Das Klinikum, das dann schnell den dringlichsten passenden Patienten benennt, erhält das Organ. Der PÜK zufolge wurden vom Klinikum Essen zunächst manche Empfänger benannt, die gar nicht operiert werden konnten, weil sie sich gerade im Ausland aufhielten oder gar nicht mehr auf der Warteliste standen.

In Essen wehrt man sich gegen die Vorwürfe. Der Kommissionsbericht beruhe "in weiten Teilen auf unzutreffenden medizinischen Annahmen", lässt das Klinikum wissen. "Darüber hinaus erweist sich der Bericht wegen gravierender Rechtsverstöße als untaugliche Grundlage für weitere Verfahren." Damit bezieht sich das Klinikum auf ein Rechtsgutachten des Kölner Strafrechtsprofessors Wolfram Höfling, der bereits eine Verfassungsklage gegen das Transplantationssystem angestrengt hat.

Das Klinikum räumt aber auch ein, "bis zum Mai 2016 die Dokumentationspflichten nicht hinreichend beachtet" zu haben. Man habe jedes grenzwertige Organ, soweit medizinisch vertretbar, möglichst effektiv nutzen wollen. "In keinem Fall hat die sogenannte Prüfungs- und Überwachungskommission nachweisen können, dass der jeweilige Empfänger ein Organ zu Unrecht bekommen hätte", betont der Ärztliche Direktor, Jochen Werner. Die Dokumentationsmängel seien zudem "zwischenzeitlich in Gänze behoben". Man habe die Kritik akribisch analysiert, es hätten aber "zu keiner Zeit willentlich und bewusst Rechtsverstöße stattgefunden."

Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, reagiert auf die Verteidigungshaltung des Klinikums gereizt: "Für mich ist das ein Dokument ärztlicher Hybris", sagte er der SZ. "Mir ist es völlig unverständlich, wie man nach all dem, was aufgearbeitet wurde, und allen Bemühungen, die wir gemacht haben, um das Transplantationssystem nach dem Skandal von 2012 transparent und vertrauenswürdig zu gestalten, so handeln kann." Er sorge sich um die Spendebereitschaft der Bevölkerung, wenn Ärzte nicht mit aller Klarheit Rechenschaft über die Vergabe von Spenderorganen ablegten.

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