Fünf Tage ist es her, dass das Militär in Ägypten geputscht und Präsident Mohammed Mursi aus dem Amt gedrängt hat. Seitdem kommt es zwischen Anhängern und Gegnern des gestürzten Präsidenten immer wieder zu Zwischenfällen. Jüngster Gewaltexzess: Eine Schießerei vor einer Kaserne, bei der Dutzende Menschen getötet wurden - ein Vorfall, der möglicherweise schwerwiegende politische Folgen haben wird.
Die wichtigsten Entwicklungen im Überblick:
- Schusswechsel in Kairo: Am Montagmorgen hat es vor einer Kaserne ein Feuergefecht gegeben, bei dem nach Angaben des Gesundheitsministeriums und der Muslimbrüder mindestens 40 Menschen getötet und mehrere Hundert verletzt wurden. Nach Angaben eines Arztes, der vom TV-Sender al-Dschasira interviewt wurde, seien unter den Opfern auch fünf Kinder. Der Vorfall soll sich vor jenem Gebäude der Republikanischen Garde ereignet haben, in dem der gestürzte Präsident Mohammed Mursi vermutet wird. Der ägyptische Übergangspräsident Adli Mansur hat eine Untersuchung angeordnet. Mansur habe eine Kommission eingesetzt, welche die "Zwischenfälle" untersuchen solle, berichtete das Staatsfernsehen.
- Wie kam es zu dem Vorfall? Über den Hergang des Geschehens gibt es widersprüchliche Angaben, die sich unabhängig derzeit nicht überprüfen lassen: Die Armee berichtete im staatlichen Fernsehen von einem Angriff einer "terroristischen Gruppe" auf das Gebäude. Dabei sei ein Offizier getötet und 40 Soldaten verwundet worden. Das Militär nahm nach eigenen Angaben etwa 200 Bewaffnete fest, die an dem Angriff beteiligt gewesen seien. Die Festgenommenen hätten unter anderem Schusswaffen und Brandsätze bei sich gehabt. Vertreter der Muslimbrüder sprechen dagegen von einem "Massaker" und sagen, ihre unbewaffneten Anhänger seien während einer Sitzblockade beim friedlichen Gebet erschossen worden. Die Sicherheitskräfte hätten mit scharfer Munition geschossen und Tränengas eingesetzt, berichtete ein Demonstrant.
- Friedensnobelpreisträger verurteilt Gewalt, türkischer Außenminister spricht von Massaker: Mohammed ElBaradei fordert, dass der Vorfall vor dem Hauptquartier der Revolutionsgarden von unabhängiger Seite untersucht wird. Gewalt führe nur wieder zu Gegengewalt und müsse scharf verurteilt werden, twitterte der säkuläre Oppositionspolitiker. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu bezeichnet die Tat - genauso wie die Muslimbrüder in Ägypten - als "Massaker". Er forderte den Beginn eines Prozesses der politischen Normalisierung in Ägypten, bei dem der Wille des Volkes respektiert werden müsse.
- Muslimbrüder rufen zum Aufstand auf, Opposition erhebt Anschuldigungen: Nach der Bluttat vor der Kaserne fordern die Muslimbrüder ihre Anhänger zum Widerstand auf. Sie sollten sich gegen jene erheben, die "die Revolution mit Panzern stehlen und dabei auch über Leichen gehen", heißt es in einer Erklärung vom Montagvormittag. Die "internationale Gemeinschaft und alle freien Völker der Erde" werden dazu aufgerufen, "zu interventieren, um weitere Massaker" und "ein zweites Syrien" zu verhindern. Ahmed Hawary, ein Sprecher der Oppositionsbewegung, attackiert die Muslimbrüder wegen ihrer Aktion vor der Kaserne. In einem Beitrag auf der US-Website The Daily Beast äußert er zwar sein Bedauern für die Toten, spricht aber von einer gezielten Konfrontationsstrategie, die die Muslimbrüder verfolgten: "Sie tun ihr Möglichstes, um die Bürger und das Militär zu provozieren. Sie haben genau auf solch einen Vorfall gewartet", so der Oppositionelle. "Sie opfern ihre Kinder, so dass sie an das Mitgefühl der internationalen Gemeinschaft appellieren können. Sie töten Menschen und hoffen geradezu darauf, dass das Militär zurückschießt." Tatsächlich ist denkbar, dass die Muslimbrüder den Vorfall nutzen, um das Militär zu diskreditieren.
- Salafisten ziehen sich zurück: Wegen des Kasernen-Vorfalls will sich die einflussreiche Al-Nur-Partei nicht mehr an den Gesprächen über eine Übergangsregierung beteiligen. Das erklärte ein Parteisprecher via Twitter. Der Grund sei das "Massaker" vor dem Sitz der Republikanischen Garde am Montagmorgen. Die Salafisten "wollten Blutvergießen verhindern und nun fließt das Blut in Strömen", fügte er hinzu. Die Al-Nur-Partei hatte bei der Wahl im vergangenen Jahr ein Viertel der Stimmen errungen und war nach den Muslimbrüdern zweitstärkste politische Kraft geworden.
- Wer wird neuer Regierungschef? Noch immer steht nicht fest, wer die Übergangsregierung in Kairo führen soll. Über das Wochenende gab es ein wildes Durcheinander von Ankündigungen und Dementis in dieser Personalie. Zuerst hieß es am Samstag, Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei sei schon so gut wie im Amt. Doch diese Meldung stellte sich als voreilig heraus, seine Ernennung scheiterte am Widerstand der streng religiösen Salafisten-Partei Al-Nur. Seit Sonntag kursiert ein neuer Name: Siad Bahaa al-Din, Sozialdemokrat und Wirtschaftsjurist. Dieser werde am Montag "sehr wahrscheinlich" mit dem Posten betraut, sagte der Medienberater von Übergangspräsident Adli Mansur.
- Die Entwicklung seit Mursis Absetzung: Nach wochenlangen Massenprotesten hatte die Armee den in die Kritik geratenen Präsidenten am Mittwoch des Amtes enthoben. Mursi hatte vor einem Jahr die ersten freien Präsidentschaftswahlen in Ägypten gewonnen, war also demokratisch gewählt. Doch seine Gegner warfen ihm vor, nur die Interessen der Islamisten zu vertreten und Ägyptens kriselnde Wirtschaft nicht in Gang zu bringen. Als Übergangspräsident wurde der oberste Verfassungsrichter Adli Mansur eingesetzt. Seitdem kommt es in Kairo und anderen Städten des Landes immer wieder zu gewalttätigen Demonstrationen, bei denen Dutzende Menschen getötet und etwa 1400 verletzt wurden. Auch am Sonntag hat es Großkundgebungen sowohl von Mursi-Gegnern als auch von Mursi-Anhängern gegeben.
- Auswärtiges Amt weitet Reisewarnung aus: Angesichts der jüngsten Entwicklung in Ägypten hat das Auswärtige Amt seine Reisehinweise verschärft. Auf der Internetseite des Ministeriums heißt es: "Von Reisen nach Ägypten wird in der aktuellen Lage vor dem Hintergrund der sehr volatilen Sicherheitslage dringend abgeraten." Ausgenommen sind Reisen in die Touristengebiete am Roten Meer sowie nach Luxor und Assuan. Auch der Transit über den Flughafen Kairo gilt als sicher. Ausdrücklich gewarnt wird hingegen vor Reisen ins ägyptisch-israelische Grenzgebiet sowie in den Nordsinai und ins Grenzgebiet zu Libyen. Grundsätzlich empfiehlt das Außenministerium allen Ägypten-Touristen, die Nachrichten genau zu verfolgen und Menschenansammlungen zu meiden.
- Die wichtigsten Texte zum Hintergrund: Warum die Muslimbrüder ihre Zukunft verspielt haben und nicht dazu in der Lage sind, einen Staat im 21. Jahrhundert zu führen, kommentiert SZ-Korrespondentin Sonja Zekri. SZ-Außenpolitikchef Stefan Kornelius schreibt in einem Essay über die Schwierigkeit des Demokratieexports in Regionen, die mit dieser westlich geprägten Staatsform wenig Erfahrungen haben, Paul-Anton Krüger erklärt, warum Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei zwar im Ausland geachtet ist, in seinem Heimatland aber als abgehoben gilt und Lars Langenau kritisiert die Doppelmoral westlicher Regierungen bei der Reaktion auf den Putsch.