Wenn man es bis nach Torgelow geschafft hat, dann ist Patrick Dahlemann kaum mehr zu verfehlen. Seine Heimat liegt unterhalb der Insel Usedom nahe der polnischen Grenze, also aus westlicher Sicht etwas abgelegen.
Aus Hamburg sind es dreieinhalb Stunden über die am Ende herrlich leere Autobahn und baumbestandene Alleen. Das rotweiße Bürgerbüro des örtlichen SPD-Landtagsabgeordneten und neuen Statthalters der Landesregierung aber steht mitten im Stadtzentrum an einem Rondell. Wie ein Ausrufezeichen. "Für Sie geöffnet", verspricht Dahlemann auf einem Schild an der Tür. Drinnen wartet der richtige Dahlemann.
"Wir müssen greifbar sein", sagt Dahlemann
Ob seine Niederlassung nicht zu provokativ sei, wurde der junge Mandatsträger gefragt, als er 2014 für einen erkrankten Genossen ins Parlament von Mecklenburg-Vorpommern nachgerückt war. Diese Gegend im Nordosten wurde seit der Wende meistens von der CDU regiert, derweil wuchsen die NPD, die AfD und der Hass. "Dieses Bürgerbüro war eine der wichtigsten Antworten darauf, wie ich mir Politik vorstelle", sagt der Sozialdemokrat Dahlemann am Schreibtisch. "Wir müssen greifbar sein. Jeder weiß, wo der Abgeordnete Dahlemann zu finden ist."
Inzwischen wird der Abgeordnete Dahlemann mehr besucht denn je, denn seit November ist er auch noch Staatssekretär für Vorpommern - mit erst 28 Jahren. Er hat in seinem Revier die Rechten besiegt. Jetzt soll er die ganze Problemprovinz pflegen.
Dass der SPD-Ministerpräsident Erwin Sellering den Posten nach seinem weiteren Wahlsieg kürzlich erfand, war bereits ein Eingeständnis, dass Deutschlands ferner Osten Aufmerksamkeit verlangt. Bei den Wahlen wurde die AfD hinter der SPD zweitstärkste Partei des Bundeslandes und legte in Vorpommern besonders zu, mitten in der politischen Heimat von Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Auf Dahlemann als Sonderbeauftragten kam Sellering, weil der Torgelower erst der NPD die Stirn geboten hatte und dann die AfD bezwang. Er gewann eines von nur drei Direktmandaten der SPD in Vorpommern. So ist Dahlemann nun außer Stadtrat, Kreisrat und Landtagsabgeordneter auch Staatssekretär, obwohl ihn der Koalitionspartner CDU zunächst nicht wollte.
Sein ausgedehntes Studium der Politikwissenschaften konnte er im Rahmen seines Aufstiegs zwar noch nicht beenden, ein wunder Punkt. Dafür sitzt der Sohn eines Forstarbeiters und einer Sekretärin inzwischen an Erwin Sellerings Kabinettstisch und soll helfen, diesen lange missachteten Landstrich zu retten. "Jetzt bin ich halt Kümmerer Nummer eins", sagt Dahlemann im blauen Hemd mit seinem schön schnoddrigen Akzent, "und dieses Kümmern ist auch dringend notwendig."
Er sprach auf der Bühne einer NPD-Kundgebung
Überregional bekannt wurde der SPD-Mann, nachdem ihn bei einer NPD-Kundgebung 2013 gegen Flüchtlinge in Torgelow der NPD-Funktionär Stefan Köster ans Mikrofon gebeten hatte. "Der wollte mich vorführen", glaubt Dahlemann, damals 25. "Die haben das als Chance gesehen, so 'nen jungen Sozen sich blamieren zu lassen, stellvertretend für alle Demokraten."
Dahlemann leitete eine Gegendemonstration, als ihn Köster spöttisch einlud. Er überlegte kurz, stieg auf die Bühne und legte los. "Bitte fallen Sie nicht herein auf diese Plattitüden, die die NPD drischt", sprach er am Pult der NPD, die hier mit fünf Mann im Kreistag sitzt. "Bitte fallen Sie nicht herein auf die menschenverachtenden Parolen, die in Torgelow verbreitet werden. Ich bin Stadtvertreter, ich kenne diese Stadt und ihre Probleme. Wir werden Sie nicht alleine lassen, wir werden Ihre Fragen umfangreich beantworten. Vergessen Sie nicht, das sind Menschen, die freiwillig bereit sind, ihre Heimat zu verlassen, weil sie Angst um ihr Leben haben. Stellen Sie sich vor, Sie wären in dieser Lage."
Immer wieder riefen Rechtsradikale dazwischen, manche angereist. Das Problem könne man "als Bürger der Stadt Torgelow gemeinsam" viel besser lösen "als mit irgendwelchen Phrasen von außerhalb", schloss Dahlemann seinen Vortrag. "Beim nächsten Mal können wir auch gerne hinter anderen Kulissen wieder miteinander reden. Das zwischenmenschliche Gespräch ist sicher sehr viel wichtiger als diese aufbrausenden Hetzreden."
Mehr als 280 000 Mal wurde der Clip geklickt
Das war ein Gegenentwurf zum üblichen Widerstand gegen rechts, der oft nur aus Pfiffen, Plakaten und Entsetzen besteht. Obendrein wurde gefilmt, das NPD-Video schnitt sich Dahlemann zurecht. Er moderierte es in weißem Hemd mit blauer Krawatte. Er erklärte, warum die Flüchtlinge kämen, wie wenige es in Mecklenburg-Vorpommern seien und wie problemlos es im Großen und Ganzen laufe. Dann stellte er den Clip ins Netz.
Mehr als 280 000 Mal wurde das Werk angeklickt, man findet es noch, den Einspruch der NPD wies Youtube nach drei Wochen Blockade ab. "Sieg gegen die Neonazis!!! Jetzt haben die braunen Brüder noch 'ne peinliche Klatsche bekommen", schrieb Patrick Dahlemann auf Facebook. "Meinungsfreiheit und politische Meinungsbildung haben gesiegt."
Nachher landete er in Talkshows, als Erklärer Vorpommerns im Heute Journal, im Schweriner Schloss und in der Regierung. Ein Spagat. Die Landeshauptstadt Schwerin ist von Torgelow 242 Kilometer entfernt und ist daher für viele Vorpommerer weit im Westen - nach Szczecin, einst Stettin, sind es 45 Minuten. Das ist ein Grund für den Frust, trotz der vielen Urlauber auf Rügen oder Usedom. Der Landes- und Lokalpolitiker Dahlemann fährt die Strecke fast täglich, will den Eindruck der fernen Entscheidungen zerstreuen und sieht die Nähe zu Polen trotzdem als Chance.
Dahlemann hat keine Lust, ständig die AfD zu attackieren
Er weiß, dass seine Präsenz manchem auf die Nerven geht. Auch hat er selbstverständlich Feinde. Mehrmals wurde sein Bürgerbüro von Unbekannten angegriffen, einmal mit Buttersäure. Was außer Kameras und Polizei hilft? Beharrlichkeit, Humor - und vor allem Argumente. Dahlemann hat auch keine Lust, ständig die AfD zu attackieren. "Wir dürfen die AfD nicht in die Märtyrerrolle drängen", rät er, "wir müssen uns mit denen inhaltlich messen."
Ein Kind der Wiedervereinigung, geboren kurz vor dem Ende der DDR. Mit 16 trat Patrick Dahlemann in die SPD ein. Seit jeher weiß er, was in einem der strukturschwächsten Gefilde Deutschlands Arbeitslosigkeit bedeutet. Inzwischen verdient er mit seinen Ämtern mehr als seine Eltern jemals zu träumen wagten - zur silbernen Hochzeit schenkte er ihnen ihre erste Flugreise, nach Mallorca. Mittelmeer statt Ostsee.
Seit er denken kann kennt er die Sprüche, dass in den Westen ziehen muss, wer es schaffen will. Dahlemann war auch dabei, als das Amtsgericht Ueckermünde geschlossen wurde, was für viele ein Zeichen für den Rückzug des Staates war, und verteidigt solche Entscheidungen. Er wünscht sich mehr Selbstbewusstsein statt Selbstmitleid. "Besetzt die Themen positiver!", sagt er. "Nicht alle Leute sind politikverdrossen. Wenn die Parteien gute Antworten liefern, werden sie auch belohnt." Er glaubt: "Die SPD kann überall im Land Wahlen gewinnen."
Jobs braucht die weite, dünn besiedelte Region, bessere Renten und Löhne. Und Zuwanderung, ob aus Berlin oder Eritrea. Der Tourismus reicht nicht. "Jedes Projekt, das in Vorpommern gelingt, und sei es noch so klein, wird dazu führen, dass diese Abgehängtheit nachlässt", doziert Dahlemann. Er erzählt von Rotoren-Naben für Windräder, einem EU-Projekt für Gemeinschaftshäuser, Wasserstraßen und Breitbandinternet, Kitaplätzen und Berufsschule. Auf Dahlemanns Website sind Fähnchen dort platziert, wo er seit seinem Einzug in den Landtag war. "1753 Termine an 789 Tagen", stand da am Donnerstag.
An diesem Vormittag bringt er erst mal einem alten Ehepaar Blumen und entschuldigt sich. Den Senioren war eine Wohnung in Anklam versprochen worden, die dann fast sein Staatsministerium bekommen hätte, ein unangenehmes Missverständnis. Kümmerer Dahlemann nimmt den Strauß, steigt in den BMW und fährt hin.
