Tibeter:Die Apachen von heute

China beutet Tibet nicht aus, im Gegenteil - aber es verlangt von den Tibetern einen hohen Preis: den Verzicht auf ihren Lebensstil.

Ian Buruma

Sind die Tibeter dazu verdammt, den Weg der Indianer zu gehen? Werden auch sie auf das Niveau einer bloßen Touristen-Attraktion reduziert und billige Andenken an eine einst große Kultur verhökern? Dieses traurige Schicksal scheint immer wahrscheinlicher zu werden.

Tibetische Mönche in China; AP

Tibetische Mönche in China - es ist schwer vorstellbar, wie ihre kulturelle Identität überleben kann.

(Foto: Foto: AP)

Die Chinesen haben eine Menge zu verantworten, doch ist das Schicksal der Tibeter nicht bloß eine Frage halb-kolonialer Unterdrückung. Es wird oft vergessen, dass in der Mitte des 20. Jahrhunderts viele Tibeter - vor allem die gebildeten in den größeren Städten - so begierig waren, ihre Gesellschaft zu modernisieren, dass sie die chinesischen Kommunisten als Verbündete ansahen - im Kampf gegen die Herrschaft der Mönche und Grundbesitzer, die sich Leibeigene hielten. Der junge Dalai Lama selbst zeigte sich in den frühen 1950er Jahren beeindruckt von chinesischen Reformen und schrieb Gedichte zum Lob des Vorsitzenden Mao.

Doch leider endete es damit, dass die chinesischen Kommunisten die tibetische Gesellschaft und Kultur zerstörten, statt sie zu reformieren. Die Religion wurde im Namen des offiziellen marxistischen Atheismus niedergemacht, Klöster und Tempel wurden zerstört (oft mit Hilfe der tibetischen Roten Garden). Nomaden wurden gezwungen, in hässlichen Betonsiedlungen zu leben. Und der Dalai Lama und sein Gefolge wurden gezwungen, nach Indien zu fliehen.

Derlei war aber nicht auf Tibet beschränkt. Zerstörung von Tradition und eine kulturelle Reglementierung gab es überall in China. In gewisser Hinsicht wurden die Tibeter sogar weniger rabiat behandelt als die Mehrzahl der Chinesen. Ebenso wenig stellten allein die Kommunisten die Einzigartigkeit von Tibet in Frage. So erklärte General Chiang Kai-shek 1946, dass die Tibeter Chinesen seien; hätten seine Nationalisten den Bürgerkrieg gewonnen, er hätte ihnen sicher nicht die Unabhängigkeit gewährt.

Tibets Buddhismus mag schweren Schaden genommen haben, doch auch der chinesische Kommunismus hat die Verheerungen des 20. Jahrhunderts nur mit Mühe überstanden. Die Entwicklung in Richtung Kapitalismus freilich war noch verheerender für die tibetische Tradition. Wie viele imperialistische Mächte legitimiert China seine Politik mit dem Verweis auf ihren materiellen Nutzen. Nach Jahrzehnten der Zerstörung und Vernachlässigung profitiert Tibet von enormen Mengen chinesischen Geldes und chinesischer Energie. Die Tibeter können sich nicht beschweren, dass sie beim Wandel Chinas von einem Dritte-Welt-Wrack zu einem Entwicklungs-Turbo vernachlässigt worden wären.

Doch der Preis dafür ist in Tibet höher als anderswo. Regionale Identität, kulturelle Vielfalt und traditionelle Künste und Gebräuche wurden überall in China unter Beton, Stahl und Glas begraben. Und alle Chinesen japsen nach derselben verschmutzten Luft. Doch die ethnischen Chinesen können wenigstens stolz darauf sein, als Nation eine Wiederauferstehung feiern zu können. Sie können sich in Chinas neuer Macht und in materiellem Wohlstand sonnen. Im Unterschied dazu können die Tibeter an diesem Gefühl nur in dem Maße teilhaben, in dem sie vollständig zu Chinesen werden. Tun sie das nicht, können sie nur den Verlust ihrer Identität beklagen.

Die Chinesen haben ihre Version von moderner Entwicklung nach Tibet exportiert - nicht nur, was Architektur und Infrastruktur betrifft, sondern auch in Form von Menschen. Und dies in einer Welle nach der anderen: Geschäftsleute aus Sichuan, Prostituierte aus Hunan, Technokraten aus Peking, Parteikader aus Schanghai, Ladenbesitzer aus Yunnan. Die meisten Einwohner Lhasas sind heute keine Tibeter mehr. Die meisten Menschen auf dem Land sind Tibeter, doch dürfte ihre Lebensweise die chinesische Modernisierung so wenig überleben, wie die Lebensweise der Apachen in den Vereinigten Staaten überlebt hat.

Da an den tibetischen Schulen und Universitäten der Unterricht auf Chinesisch erfolgt, muss jeder sich den chinesischen Normen unterwerfen, zumindest, wenn er mehr sein möchte als ein Kleinbauer, Bettler oder Verkäufer von billigem Schmuck. Mit anderen Worten, er muss Chinese werden. Selbst die tibetischen Intellektuellen, die ihre eigene klassische Literatur studieren wollen, müssen dies in der chinesischen Fassung tun. Währenddessen werfen sich chinesische und andere ausländische Touristen in traditionelle tibetische Gewänder, um sich vor dem alten Palast des Dalai Lama fotografieren zu lassen.

Die Religion wird heute in Tibet wie auch im übrigen China toleriert, doch streng kontrolliert. Klöster und Tempel werden als Touristenziele ausgebeutet, während Agenten der Regierung versuchen, die Mönche auf Linie zu halten. Wie wir bei den jüngsten Ereignissen gelernt haben, waren sie dabei nicht völlig erfolgreich; die Ablehnung der Tibeter sitzt zu tief. In den vergangenen Wochen hat sich dieser Groll Luft verschafft - zuerst in den Klöstern, dann auf den Straßen. Er richtet sich gegen die ethnischen Chinesen, die nun in Tibet leben und die rapide Modernisierung betreiben, deren Hauptnutznießer sie sind.

Der Dalai Lama hat wiederholt erklärt, dass er nicht nach Unabhängigkeit strebt. Und die chinesische Regierung hat sicher Unrecht, wenn sie ihn für die Gewalt verantwortlich macht. Doch solange Tibet ein Teil Chinas bleibt, ist schwer vorstellbar, wie seine unverwechselbare kulturelle Identität überleben kann. Die Kräfte, die gegen Tibet angetreten sind, sind überwältigend. Es gibt zu wenige Tibeter und zu viele Chinesen.

Außerhalb Tibets freilich sieht die Sache anders aus. So sehr die Chinesen die alte Lebensweise innerhalb Tibets auslöschen mögen - unbeabsichtigt halten sie sie damit womöglich außerhalb des Landes am Leben. Indem sie den Dalai Lama ins Exil gezwungen haben, haben sie eine Diaspora etabliert, die in einer noch traditionelleren Form überleben könnte, als es selbst in einem unabhängigen Tibet wahrscheinlich gewesen wäre. Diaspora-Kulturen gedeihen auf der Basis von nostalgischen Träumen der Rückkehr. Traditionen werden eifersüchtig gehütet, wie kostbare Erbstücke, und so lange weitergegeben, wie diese Träume bestehen. Und wer will behaupten, dass diese Träume nicht irgendwann wahr werden? Die Juden haben es geschafft, fast 2000 Jahre an den ihren festzuhalten.

Ian Buruma lehrt Demokratie, Menschenrechte und Journalismus am Bard College in New York. Er erhält in diesem Jahr den Erasmuspreis. ©Project Syndicate. Übersetzung: Jan Doolan

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