Thüringen:Die Freiheit nimmt er sich

German Director of European Office on Anti-Semitism

Von Berlin nach Erfurt: Stephan Kramer sagte noch vor wenigen Monaten, er sähe den Verfassungsschutz am liebsten abgeschafft.

(Foto: Hermann Bredehorst/Polaris)

Seit einem halben Jahr ist Stephan Kramer Chef des Thüringer Verfassungsschutzes.

Von Cornelius Pollmer und Ronen Steinke, Erfurt

Einer in diesem Wimmelbild ist neu. Unter dem gewölbten Sandstein des Erfurter Augustinerklosters laufen Männer in Anzügen und Uniformen durcheinander, man sieht Polizeimützen, Ansteck-Orden, Dienstwaffen. Verfassungsschützer aus allen Ost-Bundesländern sowie aus Berlin sind zusammengekommen, darunter der Immer-noch-Neue: Er hat zuvor nie im Staatsdienst gearbeitet, erst kürzlich einen Abschluss in Sozialpädagogik erworben und sähe den Verfassungsschutz am liebsten abgeschafft. So hat er es zumindest noch vor wenigen Monaten gesagt.

Stephan Kramer zeigt sich an diesem Tag im Juni erstmals mit seinen Länderkollegen. Im direkten Vergleich sieht man noch besser, dass der Neue auch der Andere ist. Vom Versagen der Verfassungsschützer im Angesicht des NSU-Terrors sprechen seine Länderkollegen nur wenn es absolut nötig ist. Kramer hingegen tut es jederzeit gern, "das Thema ist noch lange nicht abgeschlossen", sagt er. Das Thema ist schließlich der Grund, wieso er hier ist, der Grund, wieso ein Außenseiter wie er so dringend erwünscht war von der Politik.

Einige fühlten sich überfahren: Die Berufung sei ein "klassischer Bodo"

Er spricht schlagfertig und frei, macht Komplimente, er will das Mikrofon gar nicht mehr aus der Hand geben und begrüßt schließlich noch demonstrativ eine Landtags-Grüne, die er eingeladen hat, mit Vornamen. Ist doch schön, dass sie auch da ist, "die Astrid", oder? Astrid Rothe-Beinlich sagt später, Kramer sei halt wie er sei und das "Du" Teil seiner Umarmungsstrategie, "er umarmt ja wirklich seine Kritiker". Das ändere aber nichts daran, dass sie sich weiterhin eine geheimdienstfreie Gesellschaft ganz gut vorstellen könne.

Nun ist Stephan Kramer, 48, langjähriger Generalsekretär des Zentralrats der Juden, seit sieben Monaten Präsident des Verfassungsschutzes in Thüringen. "Ausgerechnet Thüringen", sagte er damals: das Land, in dem nach der Selbstenttarnung des NSU noch lange "vertuscht, beschönigt und geschreddert" wurde. So einer Behörde müsse man den Stecker ziehen, so einen Verfassungsschutz brauche kein Mensch.

Ausgerechnet Kramer, riefen politische Beobachter, als er das Amt antrat. Kann ein Quereinsteiger, der sein Jurastudium einst ohne Examen beendete, diesen skandalgeschüttelten Apparat unter Kontrolle bekommen? Oder gibt er, wie Kritiker befürchteten, bloß den bunten Hund und Alibi-Aufräumer für Rot-Rot-Grün, während dahinter alles weitertrottet wie gehabt?

Es ist von Tag eins an eine komplizierte Konstellation, auf die sich Kramer eingelassen hat. In den Koalitionsverhandlungen hatte sich die Linkspartei nicht durchsetzen können mit ihrer Maximalforderung, den Verfassungsschutz komplett abzuschaffen. Der Kompromiss? Ehrgeizige Reformpläne, eine "grundsätzliche Revision und Neuausrichtung der Sicherheitsarchitektur". Schon bei der Berufung Kramers rumpelte es das erste Mal. Einige auch aus dem Regierungslager fühlten sich überfahren, die Berufung Kramers sei "ein klassischer Bodo" gewesen, heißt es, ein in seiner Frühphase von der Euphorie eines potenziellen Coups getragener Alleingang des Ministerpräsidenten Ramelow.

Es gibt jetzt keine Geldkuverts mehr für Neonazis oder Salafisten

Als seine Berufung bekannt wurde, trug Kramer zunächst nicht gerade dazu bei, die Unruhe zu lindern, sondern grüßte sogleich aus vielen Zeitungen. "Das halte ich nie für ein gutes Zeichen, wenn Menschen von vornherein extrovertiert auftreten, bevor sie wissen, was auf sei zukommt", sagt Madeleine Henfling, die für die Grünen im NSU-Untersuchungsausschuss sitzt. Astrid Rothe-Beinlich sagt, Kramers Drang in die Öffentlichkeit sei am Anfang ein Problem gewesen. Fast entschuldigend ergänzt sie: "Vielleicht hat er sich den Job auch etwas anders vorgestellt". Und Madeleine Henfling sagt, Kramer habe aus ihrer Sicht "die Seiten gewechselt, das selbst aber noch gar nicht richtig mitgekriegt".

Manche alte Freunde hätten ihm Vorwürfe gemacht deswegen, erzählt Kramer selbst, auch das Wort "Verrat" sei gefallen, aber das kennt er ja. Beim Zentralrat der Juden galt Kramer als brillant, aber aufbrausend, er machte sich nicht nur Freunde. Die SPD, der er erst seit 2010 angehört, ist schon seine dritte Partei, vorher war er in der CDU, hat in Bonn für einen Bundestagsabgeordneten gearbeitet, dann in der FDP. Erst als Erwachsener ist Kramer zum jüdischen Glauben übergetreten, da war er bereits persönlicher Referent von Ignatz Bubis, dem damaligen Präsidenten des Zentralrats. Als Kramer sich bei der Berliner SPD in verschiedenen Kreisen umsah, soll er Erzählungen zufolge jeweils nach wenigen Tagen um Gespräche mit dem Kreisvorstand gebeten haben, um über eine Kandidatur für das Abgeordnetenhaus zu sprechen - dafür gibt es üblicherweise lange Hocharbeitszeiten und Wartelisten.

Nun also Verfassungsschutz. Kramer ist zugegangen auf die 96 Bediensteten seiner Behörde, die nicht nur skandalgeschüttelt ist, sondern auch prononciert konservativ. Von dem grauen Betonklotz im Erfurter Gewerbegebiet aus wurde bis 2013 auch Bodo Ramelow überwacht, "ausgeschnüffelt", wie dieser sagte, erst nach langer Auseinandersetzung und erst durch ein Machtwort des Bundesverfassungsgerichts ließ sich der Dienst 2013 davon abbringen. Die Beamten von damals sitzen größtenteils noch immer dort. Ihr neuer Chef Kramer, der gern erzählt, dass er ein persönlicher Freund Ramelows sei ("wir kennen uns noch aus jüdischen Zeiten"), hat noch keinen von ihnen vor die Tür gesetzt. Betonung allerdings auf "noch", wie er inzwischen ergänzt: "Wir werden schon ein bisschen durchmischen."

An der Beobachtung von Teilen der Linkspartei hat Kramer nichts geändert, die Kommunistische Plattform wird - anders als die AfD übrigens - überwacht. Auch die Rote Hilfe ist weiter im Visier, eine Vereinigung linker Juristen, die laut Verfassungsschutzbericht welcher Umtriebe noch mal verdächtig ist? Sie ist verdächtigt des "Organisierens einer Ausstellung gegen Polizeigewalt". Als Kramer ins Haus kam, stutzte er. "Da habe ich meine Leute gefragt, warum denn das? Antwort: Das war schon immer so. Das reicht mir nicht, habe ich denen gesagt, schreibt mir mal eine ordentliche Begründung auf." Wer aber dachte, Kramer trete als Verschrotter alter Strukturen an, der staunte, wie wenig sich dann im Ergebnis änderte.

Verglichen mit den Reformgedanken im Koalitionsvertrag "muss man sagen, dass im letzten halben Jahr ungefähr gar nichts passiert ist", urteilt Madeleine Henfling von den Grünen. Kramer würden im konservativen Verfassungsschutz aber auch schlicht die Leute fehlen, um seine Ansprüche und die der Koalition umzusetzen. Es sei nach wie vor grundsätzlich richtig, sagt Steffen Dittes von der Linkspartei, mit Kramer eine Person einzusetzen, "die nicht aus dem Stall der Verfassungsschützer kommt und die einen kritischen Blick von außen hineinbringt". Aber die Kultur eines solchen Hauses sei nicht leicht umzukrempeln. Von einem "Mann ohne Armee" spricht denn auch Mike Mohring, Vorsitzender der Thüringer CDU, er schätzt Kramer als Person. Aber er sieht auch eine Strategie der Landesregierung, etwa so: Kramer zieht das Interesse auf sich (und verfügt über die Eitelkeit, dieses Interesse zu bedienen), während in seinem Schatten die Behörde strukturell geschwächt wird.

Bislang ist der Verfassungsschutz schon degradiert worden zu einem Teil des Innenministeriums, im Betonklotz sitzen nun wachsame "Controller", Augen und Ohren des neuen SPD-Ministers. Rot-Rot-Grün hat das Haus stärker an die Leine genommen. Die V-Leute sind fast alle "abgeschaltet", es gibt jetzt keine Geldkuverts mehr für Neonazis oder Salafisten, die Interna aus ihrer Welt verkaufen. Nur in Ausnahmefällen sollen solche Käufe erlaubt sein: bei der Gefahr von Terroranschlägen, so wollte es die Erfurter Koalition.

Auch das stellt Kramer aber gern zur Debatte. "Terrorgefahr? Wir verlassen damit die weite Ebene der Vorfeld-Aufklärung, die unsere Aufgabe ist, und betreten den engen Bereich der Prävention von Straftaten. Da fragt man sich schon, ob das nicht besser gleich die Polizei oder die Staatsanwaltschaft machen sollte." Zwischen den Gästen der Verfassungsschutz-Tagung in Erfurt hat sich da gerade ein alter Freund zu ihm durchgeschlängelt, ein fröhlicher Herr im Polohemd, der jetzt lacht: "Aber dann wäre ja dein schöner Posten weg!"

Und Kramer, umgeben von altgedienten, in der Wolle gefärbten Verfassungsschützern? Feixt zurück, einerseits mit so viel persönlicher Freiheit, wie man sie sich von einem, der ernsthaft reformieren soll, nur wünschen kann. Andererseits aber auch mit so wenig Rücksicht auf den Apparat, dass man sich schon auch denkt: Dieses Experiment dürfte noch interessant werden. Was, wenn der Posten dann wirklich weg ist? "Das wäre nicht so schlimm", sagt Kramer, "ich finde auch einen neuen."

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