Terrorverdächtiger:Al-Bakrs Familie will Strafanzeige gegen sächsische Justizbeamte erstatten

Terrorverdächtiger Al-Bakr erhängt in Zelle aufgefunden

Nicht Polizisten, sondern drei Landsleute nahmen den terrorverdächtigen Syrer fest. Doch auch nach seiner Verhaftung ging die Pannenserie weiter.

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Nach dem Selbstmord des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr in der Untersuchungshaft in Leipzig will dessen Familie Strafanzeige gegen Beamte der sächsischen Justiz erstatten.
  • Es müsse geprüft werden, ob die Behörden fahrlässig handelten, sagte der Anwalt der Familie der SZ.
  • Eine Rekonstruktion des Falles offenbart eine Reihe von Pannen, die den sächsischen Sicherheitsbehörden unterliefen.

Von Nicolas Richter und Ronen Steinke

Die Familie al-Bakr lebt in Syrien, sie lebt seit einem halben Jahrzehnt im Bürgerkrieg, und sie hat nun den Verlust eines Sohnes zu beklagen: Ausgerechnet Dschaber, der im vergangenen Jahr nach Deutschland floh und hier vermeintlich in Sicherheit war, ist tot. Er hat sich vergangene Woche in der Justizvollzugsanstalt Leipzig das Leben genommen, sich in der Untersuchungshaft erhängt mit seinem eigenen T-Shirt. Die Familie hat sich nun entschlossen, Strafanzeige zu erstatten gegen Beamte der sächsischen Justiz. Dies bestätigt Alexander Hübner, der Dresdner Anwalt der Familie, der Süddeutschen Zeitung, dem NDR und WDR.

Man müsse prüfen, sagt Hübner, ob die Behörden fahrlässig handelten, als sie Dschaber al-Bakr in einem gewöhnlichen Haftraum allein ließen und nur alle 30 Minuten nachsahen, obwohl der Inhaftierte bereits die Lampe in seinem Haftraum zerstört und an den Steckdosen manipuliert hatte. "Dass das nicht lege artis gelaufen ist, wie auch unser Justizminister sagt, ist ja offensichtlich", sagt der Anwalt.

Eine gute Woche nach dem Tod al-Bakrs hat das Bild an Schärfe gewonnen, wie man ihm auf die Spur gekommen ist und wie er gestorben ist. Al-Bakr, enttäuscht von seinem Leben im deutschen Exil und radikalisiert durch Extremisten, wollte mutmaßlich einen Sprengstoffanschlag verüben, und er ist seinem Ziel sehr nahe gekommen.

Der Staat hat im Umgang mit dieser Gefahr zwei Gesichter gezeigt: Einerseits haben die Geheimdienste durchaus effizient gearbeitet, sie haben rechtzeitig Verdacht geschöpft, die Spur verfolgt, den Gefährder identifiziert und ausfindig gemacht. Solange er ein Überwachungsobjekt war, das man aus der Ferne betrachtete, lief alles nach Plan. Je näher man dem Verdächtigen aber physisch kam, je mehr man ihn einkreiste, desto mehr glitt die Operation ins Chaos ab. Erst entwischte al-Bakr seinen Verfolgern. Dann, als er in staatlicher Obhut war, nahm er sich das Leben.

In einem Leipziger Hotel experimentierte al-Bakr offenbar mit Sprengstoff

Wie so viele Terrorverdächtige hat Dschaber al-Bakr bei Geheimdiensten Verdacht erregt, weil er zu viel telefonierte. Sein Anschluss fiel zunächst einem ausländischen Dienst auf, der seinen Fund dem Bundesnachrichtendienst (BND) meldete, mit Hinweis auf einen gewissen "Dschaber". Von Mitte September an überwachten deutsche Verfassungsschützer den Anschluss, allerdings wussten sie nicht, mit wem sie es zu tun hatten.

Der Durchbruch gelang erst, als Dschaber al-Bakr den nächsten Fehler beging. Im September reservierte er ein Zimmer in einem Berliner Hotel, mutmaßlich um Anschlagsziele auszuspähen. Als die deutschen Staatsschützer anschließend mit ihren ausländischen Partnerdiensten die bisherigen Erkenntnisse über "Dschaber" teilten, stellte ein Dienst fest, dass er Details der Hotelreservierung abgefangen hatte, darunter den vollen Namen.

Die deutschen Staatsschützer konnten diesen Namen nun im Ausländerzentralregister eingeben, in dem alle Asylsuchenden erfasst sind, und fanden ein Foto al-Bakrs, dessen Geburtsdatum, sowie Details zu seiner syrischen Herkunft. Sofort fingen Verfassungsschützer an, ihn zu beobachten: Sein Handy verriet, wo er ungefähr war, und nun wussten sie auch, wie er aussah.

Im Internet suchte al-Bakr derweil nach dem für den Bombenbau notwendigen Ammoniumnitrat und googelte diverse potenzielle Ziele, darunter Bahnhöfe, Brücken, den Leipziger Zoo, später auch den Flughafen Berlin-Tegel. Als den Überwachern auffiel, dass der Verdächtige in einem Ein-Euro-Shop Heißkleber kaufte, meldeten sie am Freitag, 7. Oktober, dem Bundes- und Landeskriminalamt, al-Bakr plane einen Sprengstoffanschlag.

In der Wohnung entdeckten die Ermittler eine regelrechte Bombenwerkstatt

Aus Sicht eines Sicherheitsexperten haben ausländische und inländische Geheimdienste im Fall al-Bakr "schulbuchmäßig" kooperiert. Das gilt allerdings weniger für die Sicherheitsbehörden in Sachsen. Sie hatten womöglich schon Ende August eine Gelegenheit verpasst, al-Bakr auf die Spur zu kommen, wenn auch nur eine kleine. Für die Nacht auf den 1. September mietete der Syrer ein Zimmer in einem Leipziger Apartmenthotel und experimentierte möglicherweise mit dem Anrühren von Sprengstoff. Jedenfalls beschädigte er das Bad und die Einbauküche derart, dass der Besitzer Anzeige erstattete. Unter anderem waren starke Korrosionsschäden zu sehen. Ob es für die Leipziger Polizei möglich gewesen wäre, aus diesen Spuren Rückschlüsse auf den möglichen Bau einer Bombe zu ziehen, ist noch unklar.

Durch ihre Observation konnten die Verfassungsschützer zwar schnell auf den aktuellen Wohnort al-Bakrs hinweisen, eine 28-Quadratmeter-Wohnung im Chemnitzer Fritz-Heckert-Gebiet, angemietet von einem Freund, Khalil A. Weil aber die Polizei noch Zweifel anmeldete, dauerte es mehr als zehn Stunden vom Beschluss, den Bombenbauer zu ergreifen, bis zum Zugriff. Erst am Samstagmorgen, 8. Oktober, rückte ein Spezialeinsatzkommando des sächsischen LKA nach Chemnitz aus, und obwohl die Federführung damit schon bei der sächsischen Polizei lag, war es wohl eine Observationseinheit der Verfassungsschützer, die um 7.04 Uhr zuerst bemerkte, dass al-Bakr das Haus verließ.

Sofort wollen die Späher die Polizisten informiert haben - von denen sich aber zwei nicht einigen konnten, ob der fragliche Mann wirklich der Gesuchte al-Bakr sei. In der Verwirrung konnte er den ersten Sicherungsring des Sondereinsatzkommandos durchbrechen, niemand verfolgte ihn. Besser ausgestattete Polizeikräfte, etwa die GSG 9, die auch über Hubschrauber verfügt, hatten die Sachsen trotz des langen Vorlaufs nicht angefordert.

Der Bundesanwaltschaft erfuhr aus Sachsen nur von "Spuren" von Sprengstoff

In der Wohnung entdeckten die Ermittler dann eine regelrechte Bombenwerkstatt, der Eindruck war "professionell", mit verschiedenen Chemikalien sowie Bauteilen für eine Sprengstoffweste; all das, was man befürchtet hatte. Der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, die für Terror-Fälle zuständig ist, erfuhr aus Sachsen trotzdem nur etwas von "Spuren" von Sprengstoff. Erst auf Nachfrage und erst am Sonntagnachmittag, also mehr als einen ganzen Tag nach dem Zugriff, meldete das sächsische LKA, dass es sich um mehrere Hundert Gramm Sprengstoff handelte. Da berichteten auch schon erste Medien darüber. Nach dieser Mitteilung über die Menge, so heißt es aus Karlsruhe, sei dann klar gewesen, dass die Schwelle zur Übernahme der Ermittlungen überschritten war - und die Bundesanwaltschaft konnte sich einschalten.

Über die Vorgänge in der Justizvollzugsanstalt Leipzig wurden die Karlsruher Ermittler aber weiterhin nicht informiert, obwohl der Häftling al-Bakr immer auffälliger wurde. Der Terrorverdächtige saß dort seit Montag, 10. Oktober, ein. Einerseits fiel auf, dass er die Nahrungsaufnahme verweigerte; sein Anwalt konnte ihn gerade noch dazu überreden, etwas zu trinken. Andererseits zerstörte al-Bakr in seinem Haftraum eine Lampe und manipulierte eine Steckdose. Spätestens Letzteres hätte für Anstaltsmitarbeiter und Psychologen ein deutliches Alarmsignal sein müssen, erklären Experten für Suizidprävention.

Das sächsische Justizministerium ist sich der Problematik von Selbstmorden im Gefängnis durchaus bewusst. Es hat sogar eine Studie in Auftrag gegeben, die sich mit Suizidprävention in sächsischen Gefängnissen beschäftigt. Die Lebensmüdigkeit von Straftätern im Justizvollzug sei noch immer ein erhebliches Problem, heißt es in der Studie. Erste Ergebnisse legen nahe, dass Kriminelle stärker gefährdet sind, wenn sie gewisse Persönlichkeitsstörungen aufweisen.

Andererseits wird für die Forschung gerade mal eine halbe wissenschaftliche Stelle zur Verfügung gestellt. Außerdem helfen die Erkenntnisse aus der Studie für den Fall al-Bakr nur bedingt: "Unsere bekannten Persönlichkeitsbilder und psychologischen Maßstäbe sind auf das klassische europäische Publikum in einer JVA ausgerichtet", sagt die Expertin Ute Lewitzka vom Dresdner Universitäts-Klinikum. Mit Flüchtlingen allgemein habe man diesbezüglich noch viel zu wenig Erfahrung. "Erst recht mit Terroristen", sagt sie.

Mit Überwachungsobjekten kann der Staat also sehr gut umgehen, mit gefangenen Menschen weniger.

Mitarbeit: Georg Heil, Reiko Pinkert, Sebastian Pittelkow

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