Terrorismus:Wollte dieser Mann ein Massaker in Berlin anrichten?

Lesezeit: 3 min

Der am Donnerstag festgenommene Algerier Farid A. (Foto: AFP)

Vor allem wegen der Fotos des Verdächtigen nehmen die Behörden den Terrorverdacht in Berlin sehr ernst. Sie sind sicher: Der IS nutzt die Balkanroute zum Einschleusen von Kämpfern.

Von Georg Mascolo

Bis zum Herbst des vergangenen Jahres schien der Flüchtlingsstrom vor allem eine Herausforderung zu sein. Aber keine Bedrohung. Akribisch hatten Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz und Polizei die vielen eingehenden Hinweise abgearbeitet, dass sich Terroristen unter den Schutzsuchenden verbergen könnten.

Experten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) berichteten vor Abgeordneten des Bundestags, man sei allen Spuren nachgegangen, aber keine einzige von ihnen habe sich bestätigen lassen. Man könne zwar für die Zukunft keine Szenarien ausschließen, aber bisher gebe es keinerlei Beleg für die damals schon dutzendfach verbreitete These, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge mischen würden.

Das Bundeskriminalamt (BKA) schrieb in einer internen Lagebewertung, es lägen "unverändert keine Erkenntnisse auf ein gezieltes Einschleusen von Kämpfern beziehungsweise Angehörigen terroristischer Organisationen im Flüchtlingsstrom nach Deutschland mit dem Ziel der Begehung von Anschlägen" vor. Das Papier referiert den Stand vom 12. November 2015. Einen Tag später veränderte sich die Lage.

Terrorverdacht in Berlin
:Den Ermittlern das Vertrauen schenken

Wurde ein Anschlag in Berlin verhindert? Oder zeigt die Razzia nur die übergroße Nervosität?

Kommentar von Detlef Esslinger

Am Freitag, den 13., schickte der sogenannte Islamische Staat ein Killer-Kommando auf die Straßen von Paris. Die von den toten Terroristen genommenen Fingerabdrücke bewiesen: Zwei Selbstmordattentäter, die sich während des Länderspiels Frankreich gegen Deutschland vor dem Stade de France in die Luft gesprengt hatten, waren zuvor auf der griechischen Insel Leros als syrische Flüchtlinge registriert worden.

Killer-Kommando auf den Straßen von Paris

Seither sind mindestens weitere drei Fälle hinzugekommen: Der Selbstmordattentäter, der am 12. Januar in Istanbul eine Gruppe Touristen angriff und dabei auch elf Deutsche tötete, war nach Angaben der dortigen Behörden als Flüchtling aus Syrien gekommen. In Österreich hatte die Polizei in einer Flüchtlingsunterkunft in Salzburg nur Wochen zuvor zwei Verdächtige verhaftet. Und am vergangenen Donnerstag wurde eine Gruppe Algerier festgenommen - sie sollen über mögliche Anschläge in Berlin diskutiert haben.

Der Berliner Fall gilt vor allem wegen der Fotos als außerordentlich ernst, die den Behörden inzwischen vorliegen: Eins zeigt den in einem Flüchtlingsheim in Attendorn im Sauerland festgenommenen 34-jährigen Farid A. in voller Kampfmontur vor einem Waffenarsenal im Nahen Osten. Ein weiteres Foto soll ihn beim Posieren vor Leichen zeigen, noch eines beim Essen mit einem möglichen hochrangigen IS-Kader. Diesen Mann verdächtigen die Geheimdienste als wahren Drahtzieher der Anschläge in Paris.

Im vergangenen Dezember kam Farid A. über die Balkanroute nach Bayern und wurde dort registriert, zusammen mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern. Er gab sich als Syrer aus Aleppo aus. Zwei weitere der Festgenommenen dagegen leben bereits seit Jahren in Deutschland.

Es gibt keine Belege dafür, dass Terroristen unter den Flüchtlingen ein Massenphänomen sind - aber die jetzigen Erkenntnisse gelten doch als Anlass zur Sorge. Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen sagt, man wisse nun, "dass der IS den Flüchtlingsstrom nutzt, um Kämpfer mit Kampfauftrag einzuschleusen". Angesichts der neuen Entwicklungen befürchten die Sicherheitsbehörden zudem, dass es weitere Fälle geben wird, in denen Terroristen sich unter die Flüchtlinge mischen. Eine Reihe von Verdachtsfällen gibt es bereits; sie werden, wie zuletzt in Berlin, derzeit überprüft. Die bis zum vergangenen Herbst vorherrschende Arbeitsthese, dass dies unwahrscheinlich sei, weil die Flucht so beschwerlich und risikoreich ist, dass es doch viel einfacher sei, Leute direkt in Europa anzuwerben - sie gilt inzwischen nicht mehr.

Warum der IS diese Strategie wählt, darüber besteht keine abschließende Sicherheit. Experten diskutierten unlängst die Frage, ob es sich dabei auch um eine Art von "Machtdemonstration" handeln könnte - ob der IS zeigen wolle, dass man seinen Leuten nicht einmal dann auf die Spur kommen könne, wenn man sie an der griechischen Küste ordentlich registriert. Auch nach Einschätzung der Pariser Ermittler brauchte es eigentlich nicht die beiden Selbstmordattentäter, die als Flüchtlinge kamen - die französisch-belgische Terrorzelle verfügte offenbar über genügend andere Freiwillige.

Vorherrschend ist deshalb inzwischen die Arbeitsthese, dass es den Islamisten jedenfalls auch darum geht, "die Flüchtlinge zu diskreditieren", wie Maaßen es sagt. Ein Generalverdacht soll geschürt werden, eine Konfrontation, an der den Islamisten schon lange besonders liegt: Nur wenn die Muslime sich ausgegrenzt fühlen, werden sie anfällig für die radikale Ideologie der Islamisten, heißt demnach das Kalkül. Eine Umkehr der Integration ist das Ziel. Hinzu kommt, dass der IS seit Monaten versucht, die Fluchtbewegung aus den von ihm besetzten Gebieten zu stoppen. In einer regelrechten Propaganda-Kampagne ("Ratschlag an die Flüchtlinge, die ins Land des Unglaubens ziehen") behauptet er, die Muslime hätten in Europa nur "Erniedrigung" und "Ausbeutung" zu erwarten. Glücklich werde man nur im Kalifat.

Ein Generalverdacht soll geschürt werden

Schon wegen dieser IS-Strategie mühen sich alle Sicherheitsbehörden, auch nur den Anschein zu verhindern, man stelle die Flüchtlinge nun unter Generalverdacht. Und doch machen die neuen Entwicklungen ihnen das Leben noch schwerer, als es in Zeiten hoher Terrorgefahr ohnehin schon ist. Mit einem gigantischen Aufwand überprüften BKA und andere europäische Behörden jene knapp 200 Flüchtlinge, die mit den beiden Pariser Attentätern gemeinsam auf der Fähre übersetzten und in Griechenland registriert wurden. Gesucht wurde, ob die beiden alleine reisten oder Teil einer Gruppe waren.

Die Forderung nach einer lückenlosen Registrierung derjenigen, die es nach Europa schaffen, bekommt noch einmal neue Dringlichkeit. Auch dass die syrischen Flüchtlinge nicht mehr gleich nach dem Ausfüllen eines einfachen Fragebogens anerkannt, sondern nun persönlich befragt werden, gilt den Ermittlern als Fortschritt. Endgültige Sicherheit aber kann auch dies nicht schaffen. Nur wenn die IS-Verdächtigen den Behörden bereits bekannt waren, bevor sie sich auf den Weg machten, fallen sie bei einer Überprüfung auf.

© SZ vom 06.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: