Terror:Jung, unglücklich und leicht zu radikalisieren

CP

Trauernde am Place de la Bourse nach den Anschlägen in Brüssel.

(Foto: Aurore Belot/AFP)

Viele der neuen Dschihadisten radikalisieren sich plötzlich. Dahinter steckt oft Rache und Wut auf die Gesellschaft - und weniger religiöser Fundamentalismus.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Khalid und Ibrahim El Bakraoui sind zwei der drei bisher bekannten Attentäter von Brüssel. Kämpfer für den Islamischen Staat wurden die beiden auf mehr oder weniger ähnliche Weise wie die meisten Mitglieder des belgisch-französischen Terrornetzwerks, das auch in Paris zuschlug. Ihre Karrieren verliefen typisch für die jüngste Generation europäischer Dschihadisten.

Khalid und Ibrahim stammen aus Laken, einem nördlich an Molenbeek anschließenden Brüsseler Stadtteil mit ebenfalls hohem Einwandereranteil. Sie sind gern gesehene Gäste im Jugendzentrum. Ibrahim gilt als besonders brav. Khalid, geboren 1989, bekommt vor zehn Jahren die ersten Probleme mit der Polizei, wegen Diebstahls und Dealerei. 2010 schließt er sich einer Bande um Yassine Dibi an, der durch eine spektakuläre Flucht aus dem Brüsseler Justizpalast bekannt geworden war. Nach einem missglückten Autodiebstahl erhält Khalid als Mitläufer, der nicht mit der Polizei kooperieren wollte, fünf Jahre Haft. Sein Bruder überfällt 2010 ein Wechselbüro und verletzt auf der Flucht einen Polizisten mit mehreren Schüssen. Das bringt ihm zehn Jahre Haft ein.

Bekannt als Kriminelle, nicht als potenzielle Extremisten

Beide kommen 2014 vorzeitig auf freien Fuß und kehren zurück in ihr Viertel. Khalid wirkt nicht radikalisiert, er knüpft an alte Bekanntschaften an, lernt eine Frau kennen, wird Vater. "Wir dachten, er sei nach seiner Freilassung endlich erwachsen geworden", sagt eine Jugendarbeiterin, die ihn kennt, "und dass es doch ein gutes Ende mit ihm nehmen könnte." Im Sommer 2015 lässt Khalid Frau und Kind zurück und taucht plötzlich ab, genauso wie sein Bruder.

Den belgischen Behörden waren beide als Kriminelle, aber nicht als potenzielle Extremisten oder Foreign Fighters bekannt. "Dieser Gruppe", schreibt Rik Coolsaet in einer Studie des Egmont-Instituts, "hat der Ausbruch des Bürgerkriegs und das Auftauchen des IS einfach einen neuen und zusätzlichen Kanal für abweichendes Verhalten angeboten, zusätzlich zur Mitgliedschaft in Straßenbanden, Krawallen, Drogenhandel und sonstigen Verbrechen." Die neuen Kämpfer sind im Schnitt deutlich jünger als frühere Dschihadisten (meist um die 20 herum). Viele fassen den Entschluss zum neuen Leben sehr plötzlich, ohne längere Indoktrinierungs- und Radikalisierungsphase.

Der Großteil der Kämpfer fühlt sich aus der Gesellschaft ausgeschlossen

Als klassische Fundamentalisten kann man sie kaum bezeichnen. Sie sind weder von politischen Ideen beseelt, etwa dem Kampf gegen die Ungerechtigkeit des vermeintlich bösen Westens, noch spielt die Religion eine zentrale Rolle. Wichtiger sind persönliche Motive, das Gefühl, ausgeschlossen zu sein aus der Gesellschaft, keine Perspektive zu haben, keinen Sinn zu sehen.

Das treffe auf 90 Prozent der Kämpfer zu, sagt der französische Richter Marc Trévidic. "Sie sind auf Kämpfe aus, auf Abenteuer, auf Rache, weil sie nicht in die Gesellschaft passen. Religion ist nicht der Motor dieser Bewegung, und das genau ist ihre Stärke." Das seien keine "radikalen Islamisten" mehr, sagt der belgische Anti-Terror-Spezialist Alain Grignard, sondern "islamistische Radikale". Der niederländische Nahost-Experte Paul Aarts spricht von "Wut im islamischen Gewand".

Der IS bedient mit seiner Propaganda die Sehnsucht nach Sinn

Vielleicht sollte man diese These nicht überstrapazieren. Schließlich sind weiterhin Hassprediger am Werk, und in Brüsseler Moscheen, die meist mit saudischem Geld gebaut wurden, verbreiten Imame, die selten Flämisch oder Französisch sprechen, fundamentalistische Lehren. Wichtiger scheint aber zu sein, dass der IS diese Sehnsucht einer "verlorenen Generation" nach Sinn und Abenteuer mit seiner Propaganda perfekt bedient. Er bietet ihr die Chance, sich in zügelloser Gewalt ausleben zu können, er liefert ihr Heldenfiguren als Vorbilder. Als eines dieser Idole wird, vor allem über Videos, Abdelhamid Abaaoud stilisiert.

Den gebürtigen Molenbeeker, der später in St. Denis ums Leben kommen wird, beauftragen die IS-Anführer, die Attacken in Europa zu koordinieren, Täter zu rekrutieren und auszubilden. Geplant sind neben größeren Anschlägen à la Paris auch kleinere Angriffe, die im Namen des IS, aber "ohne Micromanagement" der Führung unternommen werden sollen.

Viele Taten scheitern oder werden gerade noch verhindert

Wie die New York Times unter Bezug auf ein Online-Magazin des IS schreibt, wendet der IS dabei die von der deutschen Armee im 19. Jahrhundert entwickelte "Auftragstaktik" an. Beispiele sind der Anschlag auf das Brüsseler Jüdische Museum im Mai 2014 oder die Beinahe-Attacke im Thalys-Zug von Amsterdam nach Paris. Viele Taten scheitern auch oder werden gerade noch verhindert, etwa durch die Sprengung der Terrorzelle im belgischen Verviers. Abaaoud bringt den Rekruten in Kurzlehrgängen den Umgang mit der Waffe bei, schärft ihnen Vorsicht bei der Kommunikation ein und platziert sie dann an verschiedenen Stellen in Europa.

Rik Coolsaet, Universität Gent

"Weil es ihnen schwerfällt, sich in eine als feindlich empfundene Gesellschaft zu integrieren, schauen sie sich nach alternativen Netzwerken um, in die sie hineinwachsen können."

Die Brüder El Bakraoui kannten Abaaboud vermutlich aus der Jugendzeit. Für ihn spielt Khalid den Quartiermeister. Unter falschem Namen mietet er mehrere Wohnungen an, die als Unterschlupf dienen. Eine liegt im Brüsseler Stadtteil Forest. Hier spüren Ermittler die Brüder später bei einer Durchsuchung auf, zusammen mit dem in Syrien ausgebildeten Mohammed Belkaid. Der Algerier wird erschossen, die Brüder können fliehen.

In einer angemieteten Wohnung werden Sprenggürtel und Bomben gebastelt

In der Rue Max Roos in Schaerbeek mietet Khalid eine Wohnung im fünften Stock eines renovierten Hauses. Andere Mieter gibt es nicht, selbst der Besitzer stört sich nicht an dem beißenden Geruch, der aus dem stets verschlossenen Wohnzimmer dringt. Dort kann Najim Laachraoui, gelernter Elektriker und später der zweite Flughafen-Attentäter, in Ruhe die Sprenggürtel und Bomben basteln, die in Paris und Brüssel verwendet werden.

Mindestens drei Angehörige dieser Terrorzelle sind auf der Flucht: der dritte Flughafen-Attentäter, ein mutmaßlicher zweiter Metro-Attentäter sowie Mohammed Abrini, der zwei Tage vor den Pariser Anschlägen zusammen mit Salah Abdeslam in einer Autobahn-Raststätte gesehen wurde. Um ihn, heißt es in belgischen Medien, mache sich die Polizei die größten Sorgen.

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