Teilhabegesetz:Teilen und haben

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Millionen Behinderten in Deutschland wird es bald besser gehen als bislang, sagt die Arbeitsministerin - die Betroffenen befürchten allerdings das Gegenteil.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles spricht von einer "sehr guten Nachricht" für Millionen behinderte Menschen. Die Sozialverbände hingegen befürchten zum Teil sogar Verschlechterungen. Das sogenannte Bundesteilhabegesetz soll 2017 in Kraft treten, darauf hat sich der Koalitionsausschuss geeinigt. 369 Seiten stark ist das neue große Reformprojekt der Arbeitsministerin. Was dahintersteckt, warum viele Betroffene unzufrieden sind:

Was ist das Bundesteilhabegesetz?

Nahles bezeichnet das Gesetzeswerk als "eines der größten sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung". Es soll die Lebensbedingungen der 7,5 Millionen schwer behinderten Menschen in Deutschland verbessern und das deutsche Recht im Sinne der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen weiterentwickeln. Danach ist Menschen mit einem Handicap - neben dem Schutz vor Diskriminierung - die "volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft" zu ermöglichen.

Was ist neu bei den Hilfen des Staates?

Menschen mit einer Behinderung können Eingliederungsleistungen erhalten und Geld für die Sicherung des Lebensunterhalts. Diese sind bislang von der Wohnform abhängig. Künftig sollen diese Hilfen laut Arbeitsministerium "nicht mehr an einer bestimmten Wohnform, sondern ausschließlich am individuellen Bedarf ausgerichtet sein". Damit fällt auch der Grundsatz "ambulant vor stationär" weg.

Was ist das Problem dabei?

Der Deutsche Behindertenrat, der Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz, der DGB und die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, sind skeptisch, ob das, was künftig auf dem Papier stehen soll, auch immer wirklich so umgesetzt wird. Es dürfe "kein Druck oder finanzieller Anreiz entstehen, Menschen vorrangig in Einrichtungen zu bringen - auch nicht mittelbar, indem zum Beispiel bestimmte Angebote nicht zur Verfügung stehen oder nicht finanziert werden", heißt es in ihrer Stellungnahme. Sie verweisen darauf, dass es vom jeweiligen Bundesland (und dessen Finanzlage) abhängig sein könne, "ob und wie Leistungen gewährt werden".

Wann gibt es die Eingliederungshilfe?

Künftig müssen Menschen mit einer Behinderung in fünf von neun definierten Lebensbereichen eingeschränkt sein. Sonst gibt es kein Geld vom Staat. Bislang konnten aber auch diejenigen, die ein wenig, aber noch nicht erheblich eingeschränkt sind, Geld bekommen. Diese Ermessensregel fällt weg. Menschen, die nicht genug behindert sind, könnten deshalb künftig keine Leistungen mehr erhalten, warnt der Sozialverband VdK. Dies gelte vor allem für "Menschen mit Sinnesbehinderungen und psychischen Erkrankungen".

Was ändert sich bei den Leistungen noch?

Die Träger der Eingliederungshilfe, die Kommunen und Länder, können künftig Leistungen zusammenlegen, also einen Begleiter (Assistenten) für mehrere Menschen mit Handicaps einsetzen. Das soll Doppelausgaben vermeiden. Ob beim Freundetreffen oder Kinobesuch - die Sozialverbände befürchten für Behinderte dadurch ein weniger selbstbestimmtes Leben und schlimmstenfalls ein zwangsweises Leben in der WG oder im Heim. Beim VdK heißt es deshalb: Leistungen sollen "nur mit Zustimmung des Leistungsberechtigten" zusammengelegt werden.

Was passiert mit dem Verdienst?

Bislang lohnt es sich für Menschen mit Behinderung kaum zu arbeiten, wenn sie Eingliederungshilfe beziehen. Denn je nach Einzelfall und seiner Schwere werden bis zu 80 Prozent des Einkommens mit der staatlichen Hilfe verrechnet. Frei verfügbar vom eigenen Einkommen ist nur ein Freibetrag von 808 Euro, das entspricht dem doppelten Hartz-IV-Satz. Künftig soll ein neues System gelten, um den Arbeitsanreiz zu erhöhen. Dann zahlt jeder einen Eigenbeitrag auf die Hilfe, wenn eine bestimmte Einkommensgrenze überschritten ist. Menschen mit einer Behinderung würden dann im Jahr 2020, wenn die Reform vollständig umgesetzt ist, "bis zu 300 Euro monatlich mehr zur Verfügung stehen", wirbt das Arbeitsministerium.

Ist das kein Fortschritt?

Wer von der Eingliederungshilfe profitiert, bekommt meist auch "Hilfe zur Pflege". In diesen Fällen - und das sind die meisten - bringt die neue Einkommensanrechnung nichts. Von dem Plus haben die Betroffenen nichts, weil sie sich dann verstärkt an den Kosten für die "Hilfe zur Pflege" beteiligen müssen. Wer als Behinderter Geld verdient, könnte dadurch sogar "schlechter stehen als bisher", heißt es beim VdK.

Können Behinderte künftig mehr sparen? Bislang können sie gerade einmal 2600 Euro ansparen. Was darüber hinausgeht, kassiert das Sozialamt, sofern es Eingliederungshilfe bezahlt. Dieser Freibetrag wird zunächst auf 25 000 Euro und von 2020 an auf mehr als 52 000 Euro erhöht. Doch auch hier gilt: Wer die Hilfe zur Pflege bezieht, hat davon laut VdK nichts. Auch die Partnerwahl dürfte weiter nicht ganz einfach werden: Bei der Frage, wie viel ein Mensch mit Behinderung sparen darf, wird das Vermögen des Ehepartners vorerst weiter mit herangezogen.

© SZ vom 03.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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