Tataren auf der Krim:Die Angst geht um

Lesezeit: 6 min

Auf der Halbinsel Krim leben Ukrainer, Tataren und Russen als Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde oder auch Eheleute zusammen. Doch die drohende Abspaltung könnte sie zu Feinden werden lassen. Ein Besuch.

Von Tim Neshitov, Bachtschyssaraj

Die Kreuze sind klein und blass, scheinbar beiläufig eingeritzt in Haustüren und Zauntore. So sehen Kratzer aus, die Pubertierende in fremdem Autolack hinterlassen. Diese Kreuze sind aber nicht beiläufig gesetzt, es soll sie nur sehen, wer nach ihnen sucht. Man sieht sie besser im Dunkeln, im Licht einer Taschenlampe, als am Tag. Sie markieren neuerdings die Häuser von Tataren auf der Krim. Die zwei Querbalken sollen niemanden anprangern, wieso soll man sich auch schämen, Tatare zu sein? Sie sind rein funktional. Wie das Kreuzchen im Zielfernrohr.

Sadika Memetowa, 76, hat Angst. Sie hat Brustschmerzen. Das letzte Mal sah sie solche Kreuze am 18. Mai 1944. Sie wohnte damals in derselben Stadt, Bachtschyssaraj, im Süden der Krim, nur ein paar Straßenzüge weiter. In der Dämmerung, da standen sie alle in ihren Schlafsachen vor der Tür, die Mutter, Sadika und ihre sechs Geschwister. Die russischen Soldaten sagten: Verräter. Sie befahlen: Abmarsch. Zum Bahnhof, in den Viehwaggon.

Sadika war sieben. Sie wurde auf Stalins Befehl hin nach Usbekistan deportiert, weil einige Tataren auf der Krim zwischen 1941 und 1944 zu den deutschen Besatzern übergelaufen waren. Im Mai 1944, als die Krim wieder befreit war, wurden die Häuser aller Tataren mit Kreuzen markiert. In Bachtschyssaraj wäre es einfacher gewesen, die Häuser der Nichttataren zu markieren, denn mindestens zwei Drittel der Bewohner dieser Stadt waren Tataren.

"Wenn ich schlafe, träume ich von den Soldaten"

Sadikas Vater war nicht dabei, als die Soldaten in der Dämmerung an die Tür hämmerten. Er kämpfte in der Roten Armee. "Ich will, dass meine Enkelkinder und ihre Kinder hier wegkommen", sagt Sadika. Seit dem 1. März, als die Tür ihres Hauses markiert wurde, schläft sie nur in Fetzen, döst auf der Couch weg, während der Fernseher weiterläuft. "Ich sah die Leute nicht, die uns am Samstag das Kreuz einritzten. Wenn ich schlafe, träume ich von den Soldaten, die uns 1944 abführten."

Die Leute vom vergangenen Samstag. Sadikas Nichte Ava sah sie, aus dem Küchenfenster. Sie wohnt zwei Häuser weiter. Vier Männer in Kapuzenjacken und Springerstiefeln waren es, sagt sie, mit Baseballschlägern. Sie seien in einem weißen Mercedes gekommen. "Standen an der Kreuzung da, gegen halb vier nachmittags. Hielten Listen in der Hand. Jeder lief eine Straße ab. Unsere Männer waren um die Uhrzeit alle in der Arbeit. Ich blieb zu Hause. Meinen Söhnen sagte ich nichts. Sie saßen im Wohnzimmer, der eine ist 20, der andere 25. Sie sind sehr heißblütig."

Als Avas Mann nach Hause kam, holte er eine Metallsäge aus der Garage und schnitt zwei Stahlbetonstäbe in vier Stücke, zwei für die Söhne, einen für sich, einen für Ava. "So gingen wir schlafen." Am Sonntag riefen sie die Polizei. Es kamen vier Beamte, zwei Russen, zwei Tataren. Die Russen sagten: Was gibt es hier zu ermitteln? Die Tataren sagten, auf Tatarisch: Erzählt den Russen nicht zu viel.

Nach Schichtplan auf den Maidan

Die Polizei der Krim untersteht nicht mehr dem Innenminister in Kiew, sondern dem selbsternannten Ministerpräsidenten der Krim, Sergej Aksjonow, in Personalunion Chef der nationalistischen Partei Russische Einheit. Aksjonow sagt, internationale Beobachter seien auf der Krim nicht willkommen, niemand habe zum Beispiel den UN-Gesandten eingeladen. Auf der Krim leben mindestens 350 000 Tataren, die meisten von ihnen unterstützen seit ihrer Rückkehr aus der Deportation 1989 politische Kräfte, die Moskaus Einfluss auf die Ukraine mindern wollen.

Die Tataren von Bachtschyssaraj, heute ein Drittel der Stadtbevölkerung, sind für ihre Solidaritätskundgebungen an die Opposition in Kiew bekannt. Sie standen bereits 2004 während der orangenen Revolution auf dem Maidan. Diesmal protestierten auf dem Maidan drei Monate lang 100 Tataren aus Bachtschyssaraj, jeden Tag. Wer nach Hause fuhr, wurde ersetzt, es gab Schichtpläne.

Nun sind die Tataren zurück auf der Krim und organisieren eigene Bürgerwehren. Sie patrouillieren nachts die Straßen. In Simferopol, der Hauptstadt der Halbinsel, patrouillieren sie von 19 Uhr bis zwei Uhr morgens und von zwei bis sieben. In Bachtschyssaraj von acht bis eins und von eins bis acht. Hunderte Frauen und Kinder haben die Krim bereits verlassen. In der Westukraine gibt es Bürgerinitiativen, die Unterkünfte für Tataren organisieren. Wer Verwandte in der Türkei oder Westeuropa hat, bucht Flugtickets.

Ethnische Gruppen auf der Krim
:Unter Brüdern

Auf der Krim leben Tataren, Ukrainer und Russen zusammen. Das ist lange ganz gut gegangen. Doch nun erinnern sich alle an ihre Geschichte und das wirft erneut die Frage auf: Wer gegen wen, wer mit wem?

Von Tim Neshitov

Die Geschichte von Rüstem

Rüstem, ein Enkelsohn Sadikas, geboren 1985 im usbekischen Exil, patrouilliert mit drei Nachbarn durch das Viertel "Saubere Quelle", etwa 300 Häuser, nur siebzig davon tatarisch. Die übrigen Häuser gehören Russen und Ukrainern. Bis auf einen Onkel Petja, der mit einer Tatarin verheiratet ist, patrouilliert niemand mit den Tataren.

Unweit dieses Viertels liegt das Gelände der ukrainischen Militäreinheit 2904. Das Gelände wird von bewaffneten Männern mit Masken belagert. Zu ihnen gesellen sich Mitglieder der russischen Bürgerwehr, kurzgeschorene Männer mit Jagdmessern am Gürtel und mit dem schlichten Plakat: "Die Krim ist unser."

Rüstem arbeitet in Simferopol, 30 Kilometer nordöstlich von Bachtschyssaraj, er baut Stromnetze für Kunden im ganzen Land, für Hausbesitzer, Hotels, Resorts. Bei den Patrouillen ist er in der zweiten Schicht. Nach der Arbeit schläft er, um eins bricht er auf. Seine Mutter Nuriye sagt, er ziehe sich dafür nie warm genug an.

"Wir hoffen sehr, dass hier so schnell keine Deportationszüge mehr anrollen", sagt sie. "Die Zeiten ändern sich doch, oder? Aber die Provokateure, die unsere Türen markieren, sind sehr schlau. Sie wissen genau, was 1944 passiert ist. Sie wissen, wie man diese Gesellschaft spaltet. Ich glaube, es wird hier nie wieder Ruhe und Vertrauen herrschen. Nun fragen wir uns bei jedem nicht-tatarischen Nachbarn: An wessen Seite wirst du stehen, wenn Männer in Springerstiefeln an unsere Tür klopfen?"

Sadika, die Großmutter, beobachtet, wie Rüstems dreijähriger Sohn mit Maisbrei gefüttert wird. Sie beginnt zu zählen, streckt ihre Finger aus. "Eins: Hatice, meine älteste Schwester, geboren 1930, sie starb als Erste, kurz nachdem wir in Usbekistan ankamen. Sie ließen uns auf dem Boden in einem Pfirsichgarten schlafen, und nachts ging die Bewässerungsanlage an. Alles stand unter Wasser. Die Menschen hatten Typhus, Ruhr, Gelbsucht. Zwei: Bruder Schevket, geboren 1936. Drei: Bruder Bilal, geboren 1940. Im Spätsommer brachte unsere Mutter noch ein Kind zur Welt, sie war bereits schwanger, als wir deportiert wurden. Sie nannte das Mädchen Rifeta. Rifeta lebte nur wenige Tage. Sie war die vierte Tote. Nummer fünf war unser Vater. Er kam aus dem Krieg, ein entlassener Offizier, er starb zwei Wochen später an Typhus."

Es ist kurz vor eins. Sie gehen Rüstem wecken. Patrouillenschicht. Rüstem auf einer dunklen Kreuzung, übersät von Schlaglöchern. Neben Rüstem zwei Nachbarn. Schweigen. Rüstem fröstelt. "Ich kriege dieses Zittern nicht weg." Am Vorabend waren in der Stadt zwei Busse voller Männer aus der russischen Enklave Sewastopol angekommen, einer Hafenstadt 50 Kilometer südwestlich von Bachtschyssaraj.

Lage auf der Krim
:"Aggressiv, abwartend - und teilweise paranoid"

Wie ist die Stimmung auf der Krim? Bestehen die "Bürgerwehren" aus bezahlten Provokateuren? Tendieren die russischstämmigen Bewohner zur Abspaltung von der Ukraine? Antworten auf wichtige Fragen zur Krim-Krise.

Von Tim Neshitov

Die Busse standen zwei Stunden lang vor dem Hotel Isabella, unweit der belagerten Kaserne, dann fuhren sie weg. Ein Auto der tatarischen Bürgerwehr fuhr hinterher. Einer der Busse sei in Simferopol angekommen, meldet nun die tatarische Bürgerwehr von dort. Der zweite sei unterwegs. "Wir wissen nicht wo."

Ein Posten meldet, die russischen Soldaten seien von der belagerten Kaserne abgezogen. Die russische Bürgerwehr bleibt. Die Männer sitzen schweigend am Lagerfeuer. "Ich muss morgen meine Söhne in den Reisepass eintragen lassen", sagt Rüstem. Kerim, anderthalb Jahre alt, und Nurimand, drei. "Eigentlich wollten wir sie zum Kindergarten anmelden. Jetzt nicht mehr."

Vorbereitungen für die Flucht, statt für den Kindergarten

Am Morgen macht Rüstem Fotokopien mehrerer Reisepässe. Hinter dem Kopierer steht ein rostiges Eisenrohr. Anruf eines Freundes aus dem Stadtviertel Nummer sechs. Manche Stadtviertel in Bachtschyssaraj tragen Nummern statt Namen. Sie entstanden nach 1989, als die Deportierten zurückkamen.

Die Tataren durften sich zuerst nur an den Stadträndern niederlassen. Im Stadtviertel Nummer sechs sind heute früh zwei Männer mit Pistolen in das Haus von Hüseyin Aga eingebrochen. Hüseyin Aga verkauft Computerkabel und Handyaufladegeräte. Er habe zusehen müssen, wie sein Haus verwüstet wurde.

Ein Sohn von Sadikas Nichte Ava ruft an. Sie sei im Krankenhaus gewesen, Herzschmerzen. Der Arzt habe ein EKG gemacht. "Präinfarkt-Zustand." Aber sie ließen sie nicht im Krankenhaus. Man habe ihr gesagt: "Gehen Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus." Rüstem fährt nicht zur Arbeit, er kann das, da er selbständig ist. Er holt im Gästezimmer aus dem Spiegelschrank einen weißen Karton heraus, da war mal ein Staubsauger drin. Rüstem packt Unterlagen in den Karton. Geburtsurkunden. Steuerbescheide. Versicherungen. Kundenverträge. Familienalben. "Das kann ich dann schnell ins Auto werfen."

Kein zweites Mal die Heimat verlassen

Das Parlament in Simferopol beschließt, dass die Halbinsel sich der Russischen Föderation anschließen möge. Das ruft Rüstems Frau aus dem Wohnzimmer. Sohn Nurimand kommt mit zwei Legosteinen angetorkelt. Er hat sehr helles Haar. "Der sieht doch wie ein Russe aus. Wir haben keine Probleme mit den Russen. Hier leben lauter süße alte Menschen, Großmutter Rita, Großvater Pascha, wir kennen uns gut. Und nun sind wir plötzlich Feinde, weil wir glauben, die Krim sollte Teil der Ukraine bleiben. Aber sehen Sie sich Nurimand an: Wie kann ich es riskieren, dass ihm irgendwas zustößt?"

Eine Tante lebt in Istanbul. Aber sie haben sich für Freunde in der Westukraine entschieden. "Ich bringe sie raus, aber ich komme zurück und werde kämpfen, wenn es sein muss", sagt Rüstem. "Das ist unser Land. Wir haben es ein Mal verlassen, aber das passiert nicht ein zweites Mal."

Großmutter Sadika zeigt auf ihr grünes Kopftuch aus Wolle. Sie kaufte es 1964. Damals durfte sie im Urlaub die Krim besuchen, sie war 27. "In unserem Haus wohnte eine nette russische Familie. Sie waren sehr gastfreundlich und sagten: Tut uns leid, wir wurden selbst zwangsumgesiedelt. Von gegenüber kam unser alter ukrainischer Nachbar. Er hatte von uns Tatarisch gelernt und sang uns ein tatarisches Lied vor. Er sagte, dass wir ihm fehlten."

© SZ vom 07.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: