Tag der Landtagswahlen:Die Merkelmale der Repbulik

Haben wir eigentlich Grund, über Amerika zu spotten? Ein Mentalitäts-Check in Zeiten des Wahlkampfs.

Kurt Kister

Global gesehen ist es natürlich egal, wer an diesem Sonntag die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen gewinnt. Erheblich bedeutender, selbst aus dem Blickwinkel von Bombay oder Caracas, wird es sein, wer in ein paar Tagen, genauer gesagt am übernächsten Dienstag, als Sieger oder Siegerin die Vorwahlen in einer Reihe amerikanischer Bundesstaaten hinter sich bringt.

Tag der Landtagswahlen: Barack Obama, Januar 2008: Womöglich wird er als erster Schwarzer Präsident der USA werden. Vielleicht wird aber auch Hillary Clinton die erste Frau sein, die dieses Land führt - "face" und "substance" brauchen beide.

Barack Obama, Januar 2008: Womöglich wird er als erster Schwarzer Präsident der USA werden. Vielleicht wird aber auch Hillary Clinton die erste Frau sein, die dieses Land führt - "face" und "substance" brauchen beide.

(Foto: Foto: Getty Images/AFP)

In Deutschland geht es darum, ob das Modell Koch eine Zukunft hat. Außerdem wird sich im Falle Wulffs erweisen, in welchem Ausmaß ein Schwiegersohn auch dann gewinnen kann, wenn er sich von seiner Frau getrennt hat und ob dies - was der örtliche SPD-Spitzenkandidat nämlich glaubt - relevant ist. Ja, beides wird interessant werden, auch im Hinblick auf die Bundestagswahl 2009. Aber einerseits ist die noch ein bisschen hin. Andererseits wird in mutmaßlich zwei Jahren im Bund nicht ein Politikmodell gegen das andere antreten.

Gemauschel daheim bei Westerwelle, so was wäre in den USA unmöglich

Ums Kanzleramt werden stattdessen die richtige, weibliche Angela Merkel und der falsche, männliche Kurt Merkel, der sich Beck nennt, konkurrieren. Die beiden sind aus ähnlichem Grundstoff geformt, wenn auch die Merkel über mehr Erfahrung, Chuzpe und Augenblicksbeherrschung verfügt als der Merkel. Sollte nun Beck 2009 wider Erwarten ins Kanzleramt einziehen, werden wir nach einer Orientierungsphase nicht viel anderes bekommen als wir heute schon haben, nur halt mit Bart.

Aber das dauert noch bis 2009. Abgesehen von Koch und Wulff steht jetzt erst einmal in den USA der Super Tuesday oder auch Tsunami Tuesday bevor. Der wurde so genannt, weil am 5.Februar die Wähler in 22 Bundesstaaten darüber abstimmen, für welchen Präsidentschaftskandidaten sie ihre Delegierten zu den Wahlparteitagen von Republikanern und Demokraten schicken werden. Einen Super Tuesday hat es früher auch gegeben, aber noch nie zuvor fielen an einem Tag die Entscheidungen in so vielen Bundesstaaten wie in diesem Jahr.

Es kann sein, dass man schon am 6. Februar, dem Mittwoch nach dem Wahltag, wissen wird, ob bei den Demokraten Hillary Clinton oder Barack Obama das Rennen machen wird. Sicher ist das allerdings nicht, auch wenn nach dem 5.Februar mehr als vierzig Prozent aller Delegiertenstimmen vergeben sein werden. Clinton und Obama liegen bisher so dicht auf, dass vieles möglich erscheint - sogar eine Entscheidung erst auf dem Parteitag selbst, was ein Wunschtraum der US-Fernsehsender ist.

Die Merkelmale der Repbulik

Jedenfalls müsste es schon mit einem heftigen Terroranschlag oder einem Skandal vor der Präsidentenwahl im November zugehen, wenn der oder die Vorwahlsieger/in bei den Demokraten nicht auch das Weiße Haus gewönne. Die acht Bush-Jahre sind für viele Amerikaner das Argument für den Wechsel.

Tag der Landtagswahlen: Im Idealfall vereint ein Politiker "face" und "substance". In der Realität kommt das selten vor: bei John F. Kennedy zum Beispiel.

Im Idealfall vereint ein Politiker "face" und "substance". In der Realität kommt das selten vor: bei John F. Kennedy zum Beispiel.

Man mag sich fragen, was die Vorwahlen drüben mit den Landtagswahlen hierzulande außer der zeitlichen Koinzidenz gemeinsam haben. Hat man aber - zum Beispiel als Journalist - beide Wahlsysteme aus eigener Anschauung kennengelernt, erinnert man sich an manches von jenseits des Atlantiks, das hier von Interesse sein kann. Nehmen wir zum Beispiel die schöne Unterscheidung von face und substance, mit der in den USA manchmal Politikertypen beschrieben werden.

Vielleicht neiden wir den Amerikanern einfach ihr Überraschungspotential

Bei den Vorwahlen 1996, als Senator Bob Dole die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner errang, saßen wir mal mit einem von Doles spin doctors in einem Hotel in Russell, Kansas. Russell ist der Inbegriff des Prärienests, in dem man nicht sicher ist, ob die Zeit stehengeblieben oder möglicherweise nie dort angekommen ist. Dole stammte aus Russell und sollte am nächsten Tag als der große Bob, der nach Hause gekommen war, eine Rede halten. Der spin doctor versicherte dem deutschen Reporter mehrmals, dass Dole gerade die Deutschen sehr schätze, als Menschen und als Freunde. Als Soldaten hatten die Deutschen den damaligen Leutnant Dole 1945 in Italien fast mit einer Maschinengewehrgarbe getötet. Er verbrachte danach mehr als drei Jahre in Krankenhäusern.

Wie dem auch sei, der Dole-Mensch erklärte ausführlich, warum der amtierende Präsident Bill Clinton zwar viel face, aber ganz wenig substance habe. Dole aus Russell, Kansas, wiederum verfüge über beides in hohem Maße. Der große Bob gewann dann zwar die Kandidatur der Partei, ging aber bei den Präsidentschaftswahlen unter, wohl nicht nur wegen Clintons Ausstrahlung.

Face, wörtlich Gesicht, steht also in erster Linie für: Aussehen, Ausstrahlung, das Erwecken von Sympathie - das also, was den Eindruck bestimmt, auch wenn man nicht viel darüber weiß, was dieser Mensch eigentlich denkt oder will. Ein typischer Fall von face war Ronald Reagan. Substance wiederum umfasst im weiteren Sinne das, was der Mensch denkt oder will und darüber hinaus, wie er denkt und was er weiß, welche Pläne er hat, wie ernsthaft er ist und wie es um seine Moral bestellt ist. Helmut Schmidt zum Beispiel war ein Politiker mit mehr substance als face.

Die Merkelmale der Repbulik

Im Idealfall vereint ein Politiker face und substance. In der Realität kommt das selten vor: Nelson Mandela zum Beispiel oder John F. Kennedy. Allerdings haben die meisten Politiker, die face und substance idealiter in sich vereinigen, eines mit den meisten Helden gemeinsam: Sie sind bereits tot. Das Wort substance übrigens hat im amerikanischen Englisch noch eine Bedeutung, in der es vor allem in der Klatschpresse häufig benutzt wird: Droge. Substance abuse ist Drogenmissbrauch.

Das amerikanische Wahlsystem, in dem die Person fast alles und die Partei kaum etwas bedeutet, legt wesentlich mehr Wert auf face als dies bei uns der Fall ist. Dies muss keineswegs bedeuten, dass Äußerlichkeiten bei den Spitzenkandidaten dominieren, auch wenn das gängigen Vorurteilen über Politik in den USA und über die USA selbst entspricht ("alles nur oberflächlich", "wo sind die Inhalte?", "da entscheidet doch nur das Geld"). Die Vorwahlen, und für deren Sieger später die Präsidentenwahl, sind ein Popularitäts- und Überzeugungsmarathon, den ein in der Materie stehender, aber kaum charismatischer Politiker nicht gewinnen kann. Ebenso wenig erfolgreich wird der Bewerber sein, der nur gut aussieht und freundlich wirkt. Anders noch als vor fünfzehn oder zwanzig Jahren müssen sich die Kandidaten heute einer Vielzahl von Debatten unterwerfen. Gerade in den Vorwahlen treten sie immer wieder in Fernsehdiskussionen gegeneinander an. Wer dabei nur gut aussieht, aber Zeug daherschwätzt, überlebt die Vorwahlen nicht. Wer andererseits nur den Klassenprimus gibt, ist schon kurz nach New Hampshire raus.

Das amerikanische Wahlsystem legt viel Wert auf "face"

In den US-Vorwahlen stimmen die meisten Leute nicht für eine Partei, sondern für eine Person. In Deutschland gilt so ein Verhalten als unanständig, weil man ja schließlich und gefälligst keine Menschen, sondern Ideen, Standpunkte, Programme wählt. Abgesehen vom eingebauten Ideologie-Gen des deutschen Parteien-Wählers wachen die Parteien mit dem Eifer des mittelalterlichen Großinquisitors Tomás de Torquemada darüber, ihr Monopol bei der Kandidatenauswahl nicht zu verlieren - schon gar nicht ans furchtbare Wahlvolk.

Die primaries wurden im vergangenen Jahrhundert in den USA eingeführt, um jenes Gemauschel der Parteien bei der Kandidatenauswahl zu beschränken. Dieser Prozess sollte aus den in Amerika sprichwörtlich gewordenen smoke filled backrooms, den rauchgeschwängerten Hinterzimmern, ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden. Immerhin haben die deutschen Parteien in ihrer Erscheinungsform als Landesregierungen schon das Rauchen in den meisten Hinterzimmern verboten. Die Kandidatenauswahl wird jetzt in rauchfreien Hinterzimmern oder unter Heizpilzen im Freien ausgemauschelt, die Wahl des Staatsoberhauptes Köhler sogar unter den Parteichefs in Guido Westerwelles Berliner Wohnung.

Dieser Tage hat Wolfgang Clement der hessischen SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti ein Taschenmesser in den Rücken gestoßen, weil er vor ihrer Wahl warnte. Peter Struck, dem promovierten Rüpel aus Niedersachsen, fiel dazu das ein, was für einen lebenslangen Sozialdemokraten zu den schlimmsten Beschimpfungen zählt: "Er (Clement) wäre nichts ohne die Partei!" Speziell bei Clement weiß man nicht so genau, ob das stimmt, und bei Schröder (Gazprom ohne SPD) oder Steinbrück (Finanzminister nahezu ohne SPD) stimmt es nicht. Bei vielen anderen Politikern aller Parteien aber, vielleicht auch bei Struck selbst, stimmt es hundertprozentig.

Die Merkelmale der Repbulik

Und das genau ist Teil des Problems, das wir Deutsche mit unseren Politikern immer wieder haben: Sie wären halt nichts ohne die Partei. Gäbe es Vorwahlen, schrumpfte die Bedeutung der Parteien und ihrer hauptberuflichen Funktionäre. Doch wüchse im Gegenzug das Interesse der Wähler an der Politik.

Das Vorwahl-Duell zwischen Hillary Clinton und Barack Obama ist so interessant, weil beide auf den ersten Blick nach einer je spezifischen Äußerlichkeit beurteilt werden: Eine Präsidentschaft Clintons oder Obamas hätte, unabhängig von ihrem Verlauf - ihrer substance - historischen Charakter: Die eine wäre Amerikas erste Präsidentin, der andere der erste schwarze Präsident. In beiden Fällen sagt das face der möglichen Präsidenten viel über die substance der amerikanischen Gesellschaft aus. Sie hat sich mindestens so verändert, dass eine Frau ins Weiße Haus einziehen kann, ohne "nur" First Lady zu sein. Und vielleicht ist das Land, etwas mehr als dreißig Jahre nach dem Ende der De-facto-Apartheid in den USA, reif genug für einen schwarzen Präsidenten. "I have a dream", rief Martin Luther King, und ein Teil dieses Traums würde Wahrheit bei der Vereidigung Obamas als 44. Präsident der USA. Obamas face wäre fast schon substance genug. Dass Hillary Clinton, die in vielen politischen Kämpfen erprobte Sozialdemokratin, ein politisches Koordinatensystem hat, bezweifelt niemand. Dass dies bei Obama ähnlich ist, bezweifeln viele.

Natürlich ist ein Vorwahl-System keine Versicherung gegen schlechte Präsidenten. Es ergibt sich schon mal, dass einer erfolgreich die primaries hinter sich bringt, dann aber dem Amt in Zeiten der Krise nicht gewachsen ist. Beispiele dafür sind George W. Bush oder Jimmy Carter. Andererseits werden bei den Vorwahlen Abstruslinge, Funktionärstypen, Antipathen oder Finsterlinge aussortiert. Roland Koch zum Beispiel, ohne dass er unbedingt einer der vier gerade genannten Kategorien zuzurechnen ist, würde Vorwahlen nicht überstehen. Wahrscheinlich würde er schon in Iowa rausfliegen. Koch hat substance. Face aber hat er nicht, absolutely no face!

Roland Koch wäre bei US-Vorwahlen schon in Iowa rausgeflogen

Man darf das zwar eigentlich nicht schreiben, weil es politisch unkorrekt ist und in der Arbeitswelt gar als Mobbing gewertet werden könnte, zumal Roland Koch ja für große Teile seines Äußeren so wenig kann wie ein U-Bahn-Schläger daran schuld ist, dass seine Eltern aus dem Libanon kommen.

Aber trotzdem: Koch wirkt unsympathisch, kalt und erinnert phänotypisch auch mit 49 Jahren an den stets besserwissenden Klassenprimus mit der dicken Brille, der erst spät Haare unter den Achseln bekommt. Das Älterwerden hat bei Koch etwas geholfen, weil er nun zumindest das rosig Glänzende verloren hat. Natürlich kennt sich Koch aus in allen Hinterzimmern seiner Partei. Ihm ist auch die für erfolgreiche Politiker oft typische Selbsteinschätzung zu eigen, er wisse, was die Leute wirklich dächten. Je länger aber ein Politiker "oben" ist, desto weniger weiß er, was unter ihm vorgeht. Koch beispielsweise hat nicht gemerkt, dass in diesem Jahr das beherrschende Thema die Gerechtigkeitslücke ist, nicht aber die innere Sicherheit oder die Ausländer. Anders als Bill Gates, der typische Computernerd, sind nun typische Politikernerds in Deutschland kaum zur Selbstironie fähig. Wenn man hässlich ist oder mindestens sonderbar aussieht, sollte man wenigstens manchmal darüber lachen können, weil die Leute sonst glauben, man sei überdies auch noch verbissen.

Die Merkelmale der Repbulik

Christian Wulff, der Anti-Koch in Gesicht und Substanz, wirkt nicht verbissen. Er wirkt so freundlich, dass man glaubt, das einzig Schlechte, was man über ihn sagen könne, sei, dass er immer so freundlich wirke. Über Koch aber hat man Urteile und Vorurteile, und auch außerhalb Hessens kennen viele seine Positionen zu kontroversen Themen oder glauben wenigstens, sie zu kennen. Bei Wulff dagegen weiß man, zumindest wenn man seine Tätigkeit nicht mit dem abseitigen Interesse eines Käfersammlers verfolgt, nicht, ob er Positionen hat. Er hat recht hübsche Sakkos.

Das alles prädestiniert Wulff dazu, Regierungschef in einer großen Koalition zu werden, sobald er einmal über Hannover hinauszuwachsen droht. Vizekanzler wäre auch eine Möglichkeit, etwa für den Fall, dass Beck Kanzler und der FSV Mainz 05 deutscher Fußballmeister werden sollte. Koch dagegen würde sich, sollte er Hessen oder Hessen ihn verlieren, als Innenminister im Bundeskabinett eignen. In diesem Amt wäre er eine logische Fortführung dessen, was Schily begonnen und Schäuble noch nicht zu Ende gebracht hat. Soweit zu face und substance, und dazu, dass es bei uns angeblich geistvoller zugeht. In Wirklichkeit weiß man beim hiesigen Parteiengefüge im Grunde alles schon vorher.

Gerne erinnern wir uns dagegen an das Jahr 1992 und die Kandidatur des - parteilosen - Milliardärs Ross Perot, der US-Präsident werden wollte. Perot war eine Mischung aus Trigema-Chef Wolfgang Grupp (politische Ansichten), Peter Struck (Beleidigungen) und einem Aldi-Bruder (Geld). Er finanzierte seine Kampagne selbst, fand viele freiwillige Helfer und wusste, dass er keine Chance hatte. Trotzdem mischte er alles auf und kostete dem alten Bush den Wahlsieg.

Die Amerikaner machen schon sehr viel bessere Fernsehserien als wir. Vielleicht neiden wir ihnen ja manchmal nur, dass auch ihre politischen Schlachten besser gemacht sind als unsere.

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