Tag der Deutschen Einheit:Der ostdeutsche Sturm auf die Bastille

70,000 PEOPLE TOOK PART AT A DEMONSTRATION AGAINST THE COMMUNIST REGIME IN LEIPZIG

Friedlich für Veränderung: 70 000 DDR-Bürger gingen am 9. Oktober 1989 in Leipzig auf die Straße.

(Foto: REUTERS)

Am 3. Oktober feiern wir eigentlich den 9. Oktober 1989. Am Tag der großen Leipziger Montagsdemonstration trat der bis dahin gebückte Souverän an gegen die Anmaßung der SED-Herrschaft. Es ist ein wundersam wunderbarer Beitrag zur Weltfreiheitsgeschichte - die Ostdeutschen können stolz auf ihren Mut sein.

Ein Kommentar von Heribert Prantl

Am Anfang war das Wort, am Anfang war dieses Wort: "Wir". Dieses Wort ist eigentlich kein Wort für Kommentar und Leitartikel, weil es oft vereinnahmend klingt oder gar auftrumpfend. Aber an diesem 3. Oktober ist das anders. Die Historie dieses Tages, der Deutschlands Wiederkehr gedenkt und diese Wiederkehr feiert, beginnt mit dem Wort "wir".

Es war das damals auch im Wortsinn ein bewegendes Wort. Mit dieser Losung ist vor 25 Jahren die SED-Herrschaft in Frage gestellt, mit dieser Losung ist die DDR-Diktatur gestürzt worden. Diese Losung der Montagsdemonstrationen hat die deutsche Teilungsgeschichte beendet, sie hat die Weltgeschichte verändert.

"Wir sind das Volk". Mit diesem Ruf beginnt im Jahr 1989 der wundersam wunderbare Beitrag der Ostdeutschen zur Weltfreiheitsgeschichte. Dieses ostdeutsche Kapitel berichtet von einer der friedlichsten Revolutionen, die es je gab.

Eine Diktatur hat friedlich die Löffel abgegeben

Der Stolz darauf ist ein ganz anderer Stolz, als der, der sich sonst durch die deutsche Geschichte zieht: nicht auf militärische Siege, nicht auf Eroberungen, nicht auf königliche, kaiserliche oder feldherrliche Großtage - es ist vielmehr der Stolz auf den Mut der normalen, kleinen Leute in Ostdeutschland, die ihre Angst vor der Macht und des Regimes verloren - und damit dessen Machthaber so beeindruckten, so verwirrten und schockierten, dass die den Plan aufgaben, ihre Soldaten einzusetzen noch einmal, wie am 17. Juni 1953, mit Panzern und Gewalt zu sichern. Eine Diktatur hat friedlich die Löffel und die Macht abgegeben.

Es war nicht das "Rad der Geschichte" (Helmut Kohl), das sich auf einmal gedreht hat, es waren die Menschen, die sich etwas getraut haben. Der bis dahin gebückte Souverän meldete sich zu Wort und Tat, er trat an gegen die Anmaßung der SED-Herrschaft, die meinte, sie hätte den Willen des Volkes in sich aufgesogen. Der Freiheitswille hat den Einheitswillen ermöglicht.

Am 3. Oktober hält Deutschland inne und feiert die wiedergewonnene deutsche Einheit. Über dieses Datum für den Nationalfeiertag ist viel diskutiert und gegrummelt worden, weil es ein technisches, kein wirkliches emotionales Datum ist. Der 3. Oktober 1990 war ein Tag des juristischen Vollzugs des schon Beschlossenen, an diesem Tag wurde der von der DDR-Volkskammer beschlossene Beitritt der DDR zum Grundgesetz wirksam.

Vor dem Reichstag wurde also um Mitternacht die Bundesflagge gehisst, die Nationalhymne gespielt, ein Feuerwerk abgeschossen; und in der Philharmonie wurden in einem Staatsakt Reden gehalten: Von der nun ehemaligen Präsidentin der DDR-Volkskammer, vom Bundestagspräsidenten, vom Berliner Bürgermeister und von Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Der 3. Oktober 1990 war ein Tag der Ernte dessen, was die Menschen im Oktober 1989 gesät hatten.

Bundesverdienstkreuz für Siebzigtausend

Am 3. Oktober feiern "wir" den 9. Oktober. Denn der 3. Oktober, der Tag des Vollzugs der deutschen Einheit, hat seine Wurzeln, seinen Urgrund am 9. Oktober 1989 - in der großen Montagsdemonstration von Leipzig. 70 000 Menschen gingen damals auf die Straße; mit ein paar tausend hatten die SED-Funktionäre gerechnet. Es waren Siebzigtausend, so erinnert sich der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, die nicht wussten, dass sie siebzigtausend werden - sonst wären es dreihunderttausend geworden.

Pfarrer Schorlemmer hat recht, wenn er sagt: Jeder dieser Siebzigtausend müsste mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet werden. Es war ihr Mut, mit dem alles begonnen hat. Jeder Teilnehmer musste damit rechnen, angeschossen zu werden und am Abend im Gefängnis zu sitzen.

Drei Tage vor der Demonstration hatten sie in der Leipziger Volkszeitung eine finstere Ankündigung eines Kommandeurs der Kampftruppen lesen können: "Wir sind bereits und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand".

Revolutionen wie deutsche Mondlandungen

Noch im Juni 1989 hatte der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker die Volkskammer gezwungen, der chinesischen Parteiführung zu applaudieren, weil sie ihre Opposition auf dem "Platz des himmlischen Friedens" blutig unterdrückt hatte. Der friedlichen Demonstration vom 9. Oktober, folgten weitere, noch viel größere, ihr folgten Demonstrationen für Reformen, demokratische Erneuerung und freie Wahlen an zweihundert Orten. So gewann die Destabilisierung des Regimes rasend schnell an Dynamik.

Das alles bewirkten nicht die Westdeutschen, das war noch nicht der Erfolg von Helmut Kohl. Die Westdeutschen haben das alles nicht so intensiv wahrgenommen, weil sie nicht dabei waren, weil die Bilder von den Montagsdemonstration im Westen noch nicht so mächtig waren wie die vom Mauerfall. Siegbert Schefke und Aram Radomski, die beiden Videopiraten, die auf den Turm der Reformierten Kirche stiegen, direkt am Leipziger Ring, der Wegstrecke des Demonstrationszuges - sie hatten keinen westdeutschen Pass.

Der 9. Oktober 1989, den sie filmten, war der deutsche Sturm auf die deutsche Bastille. Dieser Sturm war eine ureigene ostdeutsche Angelegenheit, nicht gelenkt, nicht geleitet, nicht beeinflusst aus dem Westen.

Diese Lenkung und Leitung kamen erst später, als die Einheit so organisiert wurde, wie sie organisiert wurde - mittels Beitritt. Dafür steht der 3. Oktober. Er ist gewissermaßen auch die Aneignung der friedlichen Revolution durch die westdeutsche Elite. Aber der Kern dieses 3. Oktober 1990 bleibt der 9. Oktober 1989: es ist der Tag der kollektiven Selbstermächtigung von Individuen zur Freiheit. Es ist der Tag des deutschen Wunders.

Es ist zu oft geschossen worden in Deutschland

Es gab ganz wenige solcher Tage in der deutschen Geschichte. Sie waren stets sehr kurz, sie wurden weggeschoben, verdrängt, abgelöst von anderen und Anderem. Die deutsche Revolution von 1848 und die deutsche Revolution von 1989 sind so etwas wie deutsche Mondlandungen - spektakuläre Leistungen, die zu wenig nutzbar gemacht wurden für die Demokratie.

Das Einmalige an der Revolution von 1989 war dies: Die einen haben niemand aufgehängt, die anderen haben nicht geschossen. Und Egon Krenz, der Nachfolger von Honecker, erfüllte nicht die in ihn gesetzten Befürchtungen. Auch das gilt es am Einheitstag zu würdigen. Man darf in die Feiern auch die einbeziehen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht geschossen haben.

Es ist zu oft geschossen worden in Deutschland. Freuen wir uns darüber, dass das einmal, an einem Wendetag der deutschen Geschichte, nicht geschah.

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