Wahl-Watcher zur Bundestagswahl:Wer von der Familienpolitik profitiert? "Ganz klar die Mittel- und Oberschicht"

Wahl-Watcher zur Bundestagswahl: SZ-Wahl-Watcher Martin Geyer

SZ-Wahl-Watcher Martin Geyer

(Foto: SZ)

Viele Wahlversprechen an Eltern gehen an deren Realität vorbei, kritisiert der Historiker Martin H. Geyer in einer neuen Folge Wahl-Watcher.

Interview von Karin Janker

Familienpolitik steht im Zentrum dieses Wahlkampfs: Die CDU hat sie zu ihrem "Schwerpunkt" erklärt und leistet sich mit der SPD und den anderen Parteien einen regelrechten Überbietungswettkampf bei den Versprechungen für Familien und Eltern. Mehr Geld stellen eigentlich alle Parteien in Aussicht - aber reicht das? Der Historiker Martin H. Geyer, der als Wahl-Watcher für die SZ den Bundestagswahlkampf beobachtet, sieht die wahren Herausforderungen für zeitgemäße Familienpolitik woanders.

SZ: Herr Geyer, was macht Familienpolitik zu einem so populären Wahlkampfthema?

Martin H. Geyer: Zum einen betrifft Familienpolitik sehr viele Menschen: In Deutschland leben acht Millionen Familien mit minderjährigen Kindern. Also geht es um viele Wählerstimmen. Zum anderen ist Familienpolitik eigentlich versteckte Klientelpolitik, auch wenn sie nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen ist.

Wie meinen Sie das?

Auf die Unterstützung von Familien können sich zunächst alle Parteien einigen. Bei der konkreten Ausgestaltung, die sie in ihren jeweiligen Wahlprogrammen versprechen, liegen allerdings die entscheidenden Unterschiede.

Nämlich welche?

Unterschiedliche Familienpolitik nützt jeweils unterschiedlichen Bevölkerungsschichten. Von Kindergeld, Kinderfreibeträgen, Elterngeld und nicht zuletzt dem Ehegattensplitting profitieren nicht alle Familien gleichermaßen. Alleinerziehende zum Beispiel haben davon kaum Vorteile. So können Parteien gerade in Sachen Familienpolitik genau ihre Klientel im Wahlkampf ansprechen, indem sie ihr Förderung und Vergünstigung versprechen.

Wer profitiert denn am meisten von der derzeitigen Familienpolitik?

Ganz klar die Mittel- und Oberschicht. Mittelschichtfamilien wurden noch nie zuvor so stark gefördert wie heute. Das derzeitige Modell, das stark auf Ehegattensplitting und Kindergeld setzt, stammt eigentlich noch aus der Adenauer-Ära. Ziel war es damals, dass Frauen so lange wie möglich die Kindererziehung selbst übernehmen. Kindergeld und Kinderfreibeträge waren ursprünglich auch dazu da, das wegfallende Gehalt der Frau auszugleichen. Die CDU setzt nach wie vor stark auf dieses Familienbild. In ihrem Wahlprogramm verspricht sie vor allem eine Erhöhung des Kindergelds sowie des Kinderfreibetrags und Unterstützung beim Kauf eines Eigenheims.

Das ignoriert, dass inzwischen 20 Prozent der Haushalte mit Kindern Alleinerziehende sind, von denen viele mit Hartz IV auskommen müssen.

Genau. Diese Menschen profitieren weder von einer Erhöhung des Kindergelds, denn das wird ihnen wiederum auf die Hartz-IV-Sätze angerechnet, noch können sie von einem Eigenheim auch nur träumen. Alleinerziehend zu sein, ist in Deutschland eines der größten Armutsrisiken.

Einer aktuellen Studie zufolge liegt das Armutsrisiko von Alleinerziehenden bei 44 Prozent, das von Rentnern dagegen bei 16 Prozent. Trotzdem werben mehr Parteien damit, Altersarmut zu bekämpfen als damit, etwas für Alleinerziehende zu tun. Wieso spielt diese Gruppe kaum eine Rolle, wenn es um Familienpolitik geht?

Zunächst: Die älteren Generationen stellen die aktiveren Wähler. Aber dann passen Alleinerziehende offenbar nach wie vor nicht zum Idealbild von Familie, das in vielen Köpfen spukt. Wir dürfen nicht vergessen: Familienpolitik ist schon immer stark ideologisch gefärbt. Kaum irgendwo überlappen sich so viele Interessensfelder wie in diesem Bereich.

"Heute reden viele von Familienpolitik und denken an den Arbeitsmarkt"

Welche Interessen sind das?

Zum Beispiel ist Familienpolitik eng mit Arbeitsmarktpolitik verzahnt. Das zeigt auch der Blick in die Geschichte: In den 1930er Jahren sollten Frauen beispielsweise vom Arbeitsmarkt verdrängt werden, um die grassierende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Auch deshalb verlangten die Nazis, dass sie sich um Heim und Familie kümmerten. Im Krieg wurde diese Position dann rasch revidiert, nun sollten Frauen plötzlich auch arbeiten. Und heute reden viele von Familienpolitik und denken an den Arbeitsmarkt.

Gerade in den 1930er Jahren war Familienpolitik aber auch stark mit völkischer Ideologie aufgeladen.

Diese kehrt heute zum Teil wieder, wenn es etwa im AfD-Wahlprogramm heißt, Familienpolitik solle dazu dienen, den "Erhalt des eigenen Staatsvolks" zu sichern.

Erkennen Sie denn in der Familienpolitik der SPD auch eine ideologische Färbung?

Die SPD propagiert in ihrem Wahlprogramm ein Familienmodell, in dem beide Eltern nach Möglichkeit in Teilzeit arbeiten sollen und das Kind einen kostenlosen Kita-Platz hat. Auch dieses Modell ist historisch gewachsen: Die Sozialdemokraten setzten schon immer stärker darauf, dass auch Frauen arbeiten gehen und dadurch Rentenansprüche erwerben und ins Steuersystem einzahlen. Das war früher eine kontroversere Position, inzwischen sind Frauen ja mehr denn je als wichtige, wenn auch vielfach schlechter bezahlte Kräfte auf dem Arbeitsmarkt gefragt.

Nicht immer ist ersichtlich, ob es bei familienpolitischen Maßnahmen um das Wohl von Kindern oder ihren Eltern geht oder darum, dass zum Beispiel der momentane Bedarf an Arbeitskräften gedeckt wird.

Tatsächlich hat die Politik oft die Wünsche von Eltern zu wenig im Blick: Alleinerziehenden würde zum Beispiel eine Erhöhung des Mindestlohns viel mehr helfen als eine Kindergelderhöhung. Wenn beide Eltern zusammenleben, geht es oft weniger ums Geld, als um eine andere wertvolle Ressource: Viele Familien wünschen sich Zeit füreinander - die Politik lässt sie im Stich.

Warum fällt es der Politik so schwer, auf diesen Wunsch einzugehen, zum Beispiel indem sie Eltern flexiblere Arbeitszeiten ermöglicht?

Flexible Teilzeitregelungen, wie sie beispielsweise in der Schweiz schon gelten, sind schwer durchzusetzen, weil der Widerstand von Arbeitgebern sehr groß ist. Familienpolitisch ist das aber die Zukunft. Die Anreize, die finanzielle Unterstützung für Familien mit Kindern bieten kann, sind gering. Man muss einsehen, dass der Staat die Kosten, die einer Familie durch Kinder entstehen, nie vollständig ausgleichen kann.

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Martin H. Geyer, geboren 1957 in Donaueschingen, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht insbesondere im Bereich der Sozialpolitik sowie der Geschichte des Sozialstaats und hat unter anderem Bücher und Aufsätze über die Geschichte der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren veröffentlicht.

Wahl-Watcher

Zur Interviewserie "Wahl-Watcher": In den Monaten vor der Bundestagswahl treten die Konturen der politischen Kultur in Deutschland besonders deutlich hervor. Deshalb beobachten vier ausgewählte Intellektuelle den Wahlkampf und erklären in regelmäßigen Interviews, was dieser über den Politikbetrieb und das Land und seine Bürger aussagt: Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Philosoph Michael Hampe, die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling und der Historiker Martin H. Geyer werfen einen Blick auf Deutschland und seine Themen in diesem Wahljahr.

Hier können Sie sich an der Serie beteiligen und uns Ihre Fragen und Anregungen schicken.

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