SZ-Wahlzentrale:Merkels Stunde der Wahrheit

Wahlarena

Bundeskanzlerin Angela Merkel 2013 in der ARD-Wahlarena.

(Foto: dpa)
  • Beim letzten Bundestagswahlkampf 2013 brachte ein Leiharbeiter die Kanzlerin in der ARD-Wahlarena in die Bredouille.
  • Er berichtete, dass er seit zehn Jahren als Leiharbeiter arbeite, und ließ damit die schöne Fassade der guten Beschäftigung in Deutschland bröckeln.
  • Am Montagabend wird es erneut eine solche Sendung geben, in der sich Kanzlerin Merkel den Fragen der "ganz normalen Leute" stellen wird.

Von Stefan Braun, Berlin

Eine Kanzlerin kann auch in einem Wahlkampf vieles organisieren. Ja, sie kann vieles vorab kontrollieren. Jenen Augenblick im Wahljahr 2013 aber hatte Angela Merkel nicht im Griff. Und deshalb war er so außergewöhnlich. Damals in der ARD-Wahlarena, in der die Kanzlerin Bürgern Rede und Antwort stehen musste.

Mit einem Mal nämlich hatte ein unbekannter, freundlicher, sehr geerdeter junger Mann das Mikrofon und erzählte der Kanzlerin seine Geschichte. Die Geschichte eines Leiharbeiters, den Merkel nicht kannte; eine Geschichte aus dem wahren Leben, wie sie die Kanzlerin bis zu diesem Moment nicht für möglich gehalten hatte.

Der Mann erzählte, dass er seit zehn(!) Jahren als Leiharbeiter in einem Zuliefererbetrieb für die Automobilindustrie arbeite. Und er erklärte, dass man angesichts dessen die Leiharbeit wohl kaum mehr als Brücke in den normalen Arbeitsmarkt bezeichnen könne.

Die Kanzlerin stand wenige Meter entfernt an einem Pult, sah skeptisch und überrascht aus. Und versuchte, die Lage zu retten, indem sie von einem "ziemlich krassen Fall" sprach. Der junge Mann konnte das mit dem "Krass" indes so nicht stehen lassen. Er erzählte, dass in seinem Betrieb seit Jahren auf eine Stammbelegschaft von 30, 40 Leuten rund 500 Leiharbeiter kämen.

Ein leiser und feiner Rundumschlag

Das war nicht nur für die Kanzlerin etwas ziemlich Neues. Es war für die Republik eine Botschaft, die während des gesamten Wahlkampfs zuvor gefehlt hatte. Die Botschaft, dass sich hinter der schönen Fassade einer guten Beschäftigung manche Baustelle verbirgt, die nicht in das schöne Gemälde passen wollte, das die CDU bis dahin fürs Wahlvolk gezeichnet hatte.

Zumal in der gleichen Sendung ein Student den Leiharbeiter nachdrücklich bestätigte. Er hatte ein Praktikum beim Deutschen Gewerkschaftsbund hinter sich und nutzte das zu einem leisen und feinen Rundumschlag. So listete er andere Fälle prekärer Beschäftigung auf, erinnerte an ausländische Arbeitnehmer mit Kurzzeitengagement und verheerenden Arbeitsbedingungen - oder berichtete von Werkverträgen, die für die Werkarbeiter schmerzhafte Konsequenzen mit sich brächten.

Die Kanzlerin, die in jenem Jahr 2013 wochenlang von der Grundbotschaft gelebt hatte, dass es dem Land im Großen und Ganzen gut gehe, wurde mit einer Realität konfrontiert, die ihr Wahlkampf ausgeblendet und ihr Gegenspieler trotz SPD-Parteibuch auch nicht thematisiert hatte.

Die "ganz normalen Leute" werden die Kanzlerin herausfordern

Einen solchen Moment hat es in diesem Jahr noch nicht gegeben. Heute Abend aber kann sich das ändern. Wieder steht eine Wahlarena auf dem Programm, wieder werden "ganz normale Leute" die Kanzlerin mit Fragen herausfordern. 2013 hatte die Arena in Mönchengladbach stattgefunden, dieses Mal ist Lübeck der Veranstaltungsort. Und wieder, so sagt es der Sender, sind Fragesteller und Publikum repräsentativ ausgewählt worden. Es könnte zum zweiten Mal Merkels "Stunde der Wahrheit" anstehen.

Eines allerdings wird dieses Mal anders sein als vor vier Jahren. Es wird wahrscheinlich keinen jungen schwulen Mann geben, der die Kanzlerin fragt, warum sie glaube, dass er sich um ein adoptiertes Kind schlechter kümmere als heterosexuelle Paare. Damals brachte diese Frage Angela Merkel fast zum Stottern; sie hatte darauf keine überzeugende Antwort.

Vielleicht ist das ja der Grund, warum die Kanzlerin das Thema vor wenigen Wochen zur Abstimmung im Bundestag freigab - und es so halb absichtlich, halb unfreiwillig binnen weniger Tage abräumte. Der junge Mann muss seine Frage seither nicht mehr stellen, die Ehe für alle steht mittlerweile im Gesetzblatt.

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