SZ-Reportage:Ein Land mit blank liegenden Nerven

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Die anonymen Anschläge mit Milzbranderregern häufen sich in den USA - inzwischen reicht ein winziger Auslöser, um den Menschen Angst einzujagen

Andrian Kreye

(SZ vom 15.10.2001) - Auf der sechsten Avenue läuft eine junge Frau im cremefarbenen Kostüm zur U-Bahn, spricht über den Verkehrslärm in ihr Handy. "Alles in Ordnung. Dinner um acht", sagt sie. Dann verfinstert sich ihr Gesicht und ihre Stimme wird ganz ernst. "Ich versuche wirklich, nicht daran zu denken. Ich will mir das erst gar nicht ausmalen."

Sie arbeitet im Rockefeller Center, jenem prächtigen Art-Deco-Komplex zwischen der fünften und der sechsten Avenue, in dem in den Redaktionsräumen des Fernsehsenders NBC der erste Bioterroranschlag auf New York stattfand. Schwer zu sagen, ob sie wirklich Grund zur Angst hat, die eigentlich immer noch größer ist, als die Gefahr, doch dort hat sich jedenfalls die Sekretärin des Nachrichtensprechers Tom Brokaw am Pulver aus einem anonymen Brief mit Milzbrand infiziert.

Nicht irgendeine Sekretärin, sondern Eren O'Connor, die Assistentin eines der drei großen Nachrichtengesichter der Nation. Brokaw verlor dann am Freitag auch die Nerven, sprach sichtlich angeschlagen in die Kamera, er sei so wütend, so erschüttert, dass er seine Gefühle nicht mehr "in gesellschaftlich akzeptable Worte" fassen könnte.

Sieht so der Zweitschlag aus? Ein wenig weißes Pulver? Ein paar Geschwüre auf der Haut? Fieber, Husten, Atemnot? In Florida ist das erste Bioterroropfer, der Fotoredakteur der Klatschpostille Sun, am Freitag vergangener Woche an Milzbrand gestorben. Fünf seiner Kollegen sind infiziert.

Tom Brokaws Sekretärin befindet sich zwar schon auf dem Wege der Besserung, weil es nur die harmlose der drei Formen von Milzbrand war. Der Bioterroranschlag auf die New York Times war ebenfalls ein Fehlalarm, genauso wie der auf US Airways Flug 121 von North Carolina nach Denver, der in Indianapolis notlanden musste, weil eine Stewardess eine verdächtige Substanz gefunden hatte.

Dafür haben die Laboranten in dem verdächtigen Brief an das Microsoft-Büro in Reno, Nevada, Anthraxerreger gefunden. Die Filmstudios von Sony Pictures in Culver City bei Hollywood sollen erneut untersucht werden.

Sitzen auf der Zielscheibe

Die Gebäude der Zeitung Kansas City Star, der Michigan State University und des TJ-Maxx-Kaufhauses in Detroit wurden in den letzten Tagen wegen Bioterroralarm evakuiert. Ebenso die Poststelle des Außenministeriums in Washington, der Flughafen von El Paso, ein Fordwerk in New Jersey, eine Filiale der Telefongesellschaft Pacific Bell in Sacramento, Postämter in Connecticut und Colorado sowie Schulen in Florida, Kansas und Ohio. Die Fernsehsender CBS, NBC, ABC, MTV und CNN haben ihre Poststellen vorsorglich gleich ganz geschlossen.

Wer tut so was, fragt Frank Cesno auf CNN. Vielleicht war es die Al-Quaida. Vielleicht waren es Neonazis, die solche Angriffe auch schon angedroht hatten. Oder ganz einfach Verrückte. Es sind keine Ruinen, nicht Tausende von Toten, keine Rauchschwaden, die Ground Zero, den Nullpunkt der neuen Angriffswelle, markieren. Ground Zero liegt jetzt in den Köpfen. Es ist die Angst, die unmerklich zum elementaren Teil des Nervensystems geworden ist. Natürlich hat sich das Leben in New York normalisiert. Man geht seiner Arbeit nach, trifft sich mit Freunden, geht Essen, kümmert sich um Banalitäten.

Doch dann reicht schon ein winziger Auslöser, und die Angst schießt einem wie ein Stromstoß durch den Magen. Das kann eine Schlagzeile sein, ein Fernsehbild, eine Nachricht, ein lautes Geräusch. Und auch wenn die Angst immer noch größer ist als die Gefahr, seit dem 11. September lebt man in New York nicht mehr wie in London, Paris und Rom, sondern wie in Tel Aviv, Bogotá oder Belgrad. Man hat das Gefühl, auf einer Zielscheibe zu sitzen. Und da ertappt man sich selbst in der Hochburg von Liberalismus und politischer Korrektheit beim so genannten "Racial Profiling", dem zweckgebundenen Rassendenken, das die Polizei in den USA bei Kontrollen und Fahndungen anwendet, obwohl es eigentlich gegen die amerikanische Verfassung verstößt.

Doch bei der Einladung des Middle East Forums, dem Briefing des UNO-Botschafters der afghanischen Nordallianz, Ravan Farhadi, beizuwohnen - in den Räumen der Anwaltskanzlei Milberg Weiss Bershad Hynes & Lerach im Büroturm One Pennsylvania Plaza - sind solche Gedanken zum Beispiel nicht aufzuhalten.

Man befindet sich also im 48. Stockwerk des Hochhauses, das dem Bahnhof Pennsylvania Station angeschlossen ist, obwohl der Vertreter der Al- Quaida seine moslemischen Brüder davor gewarnt hat, sich in hohen Gebäuden aufzuhalten. Obendrein hat man sich eigentlich schon vor Wochen geschworen, Sehenswürdigkeiten wie die New Yorker Bahnhöfe, Wolkenkratzer über 60 Stockwerke und die Museen zu meiden. In dem Konferenzraum befinden sich rund fünfzig jüdische Banker, Finanzmagnaten und Industrielle. Und die hören dem Erzfeind der Talibanregierung zu. Das macht nach derzeitiger Rechnung gleich drei Zielscheiben an einem Ort.

Staubwolke kurz vor zehn

Wenn der Anschlag vom 11. September der Stadt die Eingeweide herausgerissen hat, wie es die New York Post formuliert hat, dann haben die biologischen Anschläge den Kopf getroffen. Und wenn mit dem Milzbrandangriff in Florida die erste Salve im Biokrieg fiel, dann war New York der erste Volltreffer. Der Fernsehsender NBC und die Redaktion der New York Times begrenzen in Midtown Manhattan jene Gegend, in der sich im Umkreis von nicht einmal einem Kilometer sämtliche Giganten der Medienindustrie niedergelassen haben. Im Rockefeller Center residieren AOL- Time-Warner, die Associated Press, NBC und Simon & Schuster, entlang der sechsten Avenue CBS und Murdoch.

Am Times Square sind es Viacom, Condé Nast, Reuters und Bertelsmann. Sollten die Anschläge mit Kalkül geplant worden sein, dann haben sie funktioniert. Wenn ein Nachrichtensprecher vom Kaliber eines Tom Brokaw vor der Kamera die Nerven verliert, dann tut das die ganze Nation.

Doch wie gesagt, zu sehen ist vom neuen Ground Zero nicht viel. Selbst am Freitagvormittag, als die Nachrichten vom Angriff auf New York gesendet werden. Vor dem Rockefeller Center bauen sich die Fernsehkorrespondenten auf, sprechen ihre Texte. Nur wenige Straßen weiter öffnet die Starreporterin Judith Miller in der Redaktion der New York Times ihre Post. Die zierliche Mittvierzigerin mit dem braunen Pagenkopf gehört zu den besten Journalisten der Zeitung. Sie war Chefin des Büros in Kairo, hat die meisten Geschichten über Osama bin Laden und die Al-Quaida geschrieben, gilt als Spezialistin für Bioterrorismus und hat mit ihrem Buch über Biowaffen, "Germs", gerade einen Bestseller gelandet. Wenige Tage zuvor hat sie im Regency Hotel noch einen Vortrag für einflussreiche Geschäftsleute und Journalisten gehalten. Da hat sie abgewiegelt.

"Als ich begonnen habe, an meinem Buch zu arbeiten, hatte ich Alpträume", hat sie da gesagt. "Als ich fertig war, sah ich einen Hoffnungsschimmer." Sie erläuterte die Chance und Dringlichkeit, wegen der Bioterrorgefahr, das öffentliche Gesundheitswesen auszubauen. Sie erläuterte die Gefahren, beschwichtigte, dass sie nicht so akut seien, und warnte, dass die Mischung aus Selbstmordattentätern und Biowaffen eine nicht kontrollierbare Größe sei. Sie wirkte ruhig an diesem Nachmittag. Nur auf die Frage, was im Falle einer Pockenepidemie zu erwarten sei, huschte kurz Panik über ihr Gesicht.

Als sie am Freitag kurz vor zehn einen Brief öffnet, kommt ihr eine Staubwolke entgegen. "Was ich da gedacht habe, kann man nicht schreiben", sagt sie später. "Und was ich gesagt habe, erst recht nicht." Sofort meldet sie den Vorfall bei der Krankenstation der Zeitung. Minuten später werden die Redaktionsräume abgeriegelt. Und dann sieht man vor der Redaktion die Bilder, vor denen ganz New York seit dem 11. September eine solche Angst hat. Ein Einsatzteam in gelben HAZMAT-Schutzanzügen, Gasmasken und Gummistiefeln stürmt das Gebäude. Bioalarm.

Von der New-York-Times-Redaktion im Westen und dem Rockefeller Center im Osten rollen nun die Wellen der Angst auf den Times Square zu. Im 30. Stock des Bertelsmann-Gebäudes ist der Sitz der Bad Boy Entertainment, der Firma des Rapstars und Modedesigners Sean "Puff Daddy" Combs. Auf dem Ledersofa in der Eingangshalle sitzt ein gut zwei Meter großer, schwergewichtiger Bodyguard, der jeden Besucher durch die Panzerglastüre in Augenschein nimmt, bevor die Sekretärin den Türöffner bedienen darf. Auf dem Fernseher läuft statt MTV heute der Lokalnachrichtensender New York One.

Bürgermeister Giuliani ist dort zu sehen, der höchstpersönlich zu den NBC- Büros gekommen ist. Ohne Atemmaske. Ohne Schutzanzug. Mit solchen Auftritten soll er die Angst seiner Bürger dämpfen. Doch im Bertelsmanngebäude geht man dann doch lieber auf Nummer Sicher. "Keiner darf mehr rein", ruft die Sekretärin dem Bodyguard zu. Unten steht aber eine berühmte Sängerin, die einen Termin beim Chef hat. Die muss jetzt persönlich abgeholt werden.

Bis zum Abend hat sich Midtown wieder beruhigt. Am nächsten Tag, dem Samstag, gehört die Gegend wieder ganz den Touristen. Die Fernsehteams vor dem Rockefeller Center sind wieder abgezogen. Bei der New York Times produzieren sie routiniert die Sonntagsausgabe. Am frühen Abend nippen elegante Herren und Damen 62 Stockwerke über dem Schauplatz des ersten biologischen Angriffes auf New York an der Bar von Cipriani's Rainbow Room an ihren sechzehn Dollar teuren Bellinis. Einen wunderschönen Blick hat man hier von der Spitze des Rockefeller Centers, sieht von Brooklyn bis nach New Jersey. Ganz im Süden leuchten schon die Scheinwerfer von Ground Zero. Rauchschwaden ziehen über die südliche Skyline. Dort unten brennt es noch immer.

Ehemann mit Gasmaske

Gegen halb zwölf beginnt in den NBC-Studios die Live- Übertragung von Amerikas beliebtester Comedysendung "Saturday Night Live." Darrell Hammond beginnt mit einem Sketch, in dem er als Vizepräsident Dick Cheney vor der Kulisse steht, vor der Osama bin Laden am Montag seine Drohrede gehalten hat. Man lacht schon über den Krieg. Nur Stargast Drew Barrymores Nervosität scheint echt zu sein, als sie in ihrem Begrüßungsmonolog erzählt, dass sie eigentlich erst gar nicht herfliegen wollte, und kaum hatte sie den Mut aufgebracht, nach New York zu kommen, hätte es ausgerechnet in dem Studio, in dem sie arbeitet, den ersten Bioalarm gegeben.

Dann bedankt sie sich bei ihrem Ehemann Tom Greene, dass er ihr zur Seite steht, die Kamera schwenkt ins Publikum und man sieht ihn mit der Gasmaske auf dem Kopf. Das ist lustig. Da lachen die Gäste und später, als Chris Kattan mitten in dem Nachrichtensegment mit den Afghanistanwitzen kurz als schwuler Hitler auftritt, lachen sie noch mehr. Plötzlich scheint der Dämon von damals so harmlos. Zumindest ist er schon so lange tot.

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