(SZ vom 21.11.2001) - Was die Verdienste um das wohlgewählte Wort anlangt, macht in der SPD Wolfgang Thierse so schnell keiner was vor. So war ihm am Dienstag in Nürnberg spontan eine treffende Formulierung aus Hegels Ästhetik erinnerlich. Dessen Zwiespalt von der "Poesie des Herzens" und der "Prosa der Verhältnisse" sah der Belesene im Ringen der SPD um eine zeitgemäße Außen- und Sicherheitspolitik widergespiegelt.
Wie Hegel diesen Zwiespalt aufgelöst hat, berichtete Thierse seiner Partei nicht. Diese befreite sich aus ihrer Not, indem sie der Poesie ihres Herzens zunächst freien Lauf ließ und am Ende der Prosa der Verhältnisse ihre Zustimmung zugleich nicht verweigerte.
Mit dem verabschiedeten Beschluss kann Gerhard Schröder als Bundeskanzler im offiziellen Einklang mit seiner Partei weiter seine Politik der uneingeschränkten Solidarität mit den USA machen, also eine Politik, die das Mittel des Militärischen einschließt. In vergleichsweise harmlosen Fußnoten haben die Gegner dieses Ansatzes ihre Vorbehalte untergebracht.
Erstes Opfer dieses Kompromisses zugunsten der Regierungsräson wurde Verteidigungsminister Rudolf Scharping. In der Verhaltensbiologie gibt es das Phänomen der Übersprungshandlung: Erkennt zum Beispiel ein Nashornbulle, dass er im Kampf gegen einen Konkurrenten unterliegen wird, rammt er sein Horn an den nächsten Baum, um die Aggressionen abzubauen, ohne dabei gleich schwere Verletzungen davonzutragen.
Nach diesem Prinzip hat sich der Parteitag in Respekt vor dem Großen Nashorn einen anderen als Objekt der Wutabfuhr ausgesucht. Das wahre Abstimmungsergebnis über die Militärpolitik ist die Schmach, welche die Genossen Scharping bei den Wahlen zum stellvertretenden Parteivorsitz beigebracht haben. Als Verteidigungsminister hat er sich durch atemberaubend törichte und linkische Versuche der Selbstdarstellung für eine solche Reaktion angeboten.
Inhaltlich hat die SPD ihrem Vorsitzenden und Kanzler keinen schmerzhaften Knüppel zwischen die Beine geworfen. Das ist eine Veränderung gegenüber dem Parteitag 1999 in Berlin, bei dem ihm überraschend untersagt wurde, deutsche Kampfpanzer in die Türkei zu liefern.
Das Ergebnis von Nürnberg, die persönliche wie inhaltliche Unterstützung für Schröder nach dem 11. September, offenbart eines unmissverständlich: Es mögen viele Delegierte in Nürnberg stellvertretend für viele Menschen im Land ein mulmiges Gefühl haben angesichts der Militärschläge der USA und des Umstandes, dass sich die deutsche Regierung dahinter gestellt hat. Aus diesem diffusen Gefühl heraus lässt sich aber keine wirkliche Alternative entwickeln.
Dieses Eingeständnis ist in die nunmehr uneingeschränkte Solidarität der SPD mit ihrem regierenden Vorsitzenden unauflöslich eingewoben. Mit dem Nürnberger Beschluss hat Schröder der SPD abgerungen, den veränderten Verhältnissen Tribut zu zollen. Dadurch hat sie möglicherweise wirklich an Poesie verloren. Aber gute Prosa sollte man auch nicht gering schätzen.