Syrischer Flüchtling über den Bürgerkrieg:"Eine solche Erfahrung kann niemand aushalten"

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Syrische Flüchtlinge im Libanon:Mehr als zwei Millionen Syrer haben inzwischen ihr Land verlassen.

(Foto: Getty Images)

Salim Salamah floh vor dem syrischen Bürgerkrieg nach Schweden und versucht nun von dort aus, die Rebellen zu unterstützen. Im Interview spricht der Aktivist und Blogger über die Brutalität des Krieges, die Chancen eines Militärschlags und warum ihn manche als "Imperialisten" beschimpfen.

Von Mareike Enghusen

Salim Salamah, 24, wuchs im palästinensischen Yarmouk-Flüchtlingslager in Damaskus auf. Vor der Revolte studierte er Jura an der Damaskus Law School, nach Ausbruch der Aufstände in Syrien wurde er zum politischen Aktivisten gegen das Regime und schrieb ein englischsprachiges Blog, das international Aufmerksamkeit erlangte. Vor acht Monaten floh er vor dem Krieg nach Schweden. Jetzt lebt er in Malmö als anerkannter Flüchtling. Von dort aus versucht er, seinen Kampf gegen das Assad-Regime fortzusetzen. Dafür beschimpfen ihn nun manche in Schweden als "Imperialisten".

Welche Rolle spielt die palästinensische Minderheit in Syriens Krieg?

Palästinenser leben seit 1948 in Syrien, inzwischen sind es etwa 400.000 Wir haben uns erfolgreich in die Gesellschaft integriert und als die Revolution begann, haben wir uns automatisch daran beteiligt. Wir Palästinenser haben viel politische Erfahrung wegen unseres politischen Kampfes für Palästina, wir sind sehr gut organisiert. Viele der großen Hilfsorganisationen in Syrien wurden von Palästinensern gegründet. Der Konflikt spaltet jedoch auch die palästinensische Diaspora. Manche Palästinenser sind für das Regime, und sie töten deshalb jetzt Palästinenser in Syrien, die das Regime ablehnen. Wie groß der Teil der Assad-Unterstützer ist, lässt sich allerdings schwer einschätzen.

Im März 2011 begannen die Proteste, sind Sie damals auch demonstrieren gegangen?

Nicht sofort. Ich wusste nicht, wie die Sicherheitskräfte reagieren würden. Die Frage war: Würde es Gewalt geben? Würden sie die Proteste einfach zulassen, weil sie glaubten, es sei nur ein kurzfristiges Phänomen? Später habe ich aber angefangen, zu demonstrieren. Es war beängstigend.

Salim Salamah

Salim Salamah Salim Salamah

(Foto: oH)

Haben Sie während der Demonstrationen Gewalt erlebt?

Gewalt und Schüsse, ja. Wenn du zur Demonstration gehst, weißt du, du kommst vielleicht nicht zurück. In Syrien kannst du nicht einfach zu einem Freund sagen: "Weißt du, das Regime macht schlechte Arbeit, wir sollten protestieren." Dafür könntest du umgebracht werden. Vielleicht schießt dir ein Scharfschütze in den Kopf, vielleicht wirst du verhaftet und zu Tode gefoltert. Menschen werden festgenommen, und dann rufen die Sicherheitskräfte deine Familie an und sagen: "Bitte holen Sie den Ausweis ihres Sohns ab. Er ist tot." Freunde von mir sind unter Folter gestorben. Wir haben nie ihre Leichen gesehen. Ihre Mütter sind darüber ausgerastet.

Woher wussten Sie, dass sie unter Folter gestorben waren?

Nur ein Beispiel: Anfang 2012 habe ich mich mit vielen Frauen und Männern in geheimen Gruppen getroffen und über Demokratie diskutiert. Darüber, wie wir uns den Staat vorstellen. Einer dieser Aktivisten hieß Ayham Ghazoul, er war Zahnarzt. Im Juli 2012 wurde er verhaftet, und kurz darauf veröffentlichten die "Reporter ohne Grenzen" einen Bericht, in dem stand, Ayham Ghazoul sei unter Folter gestorben. Er war einer der zivilisiertesten, intellektuellsten, gebildetsten, friedlichsten Aktivisten, denen man in seinem Leben begegnen konnte. Wir wissen nicht einmal, wo seine Leiche ist, denn sie legen die Menschen in Massengräber.

Wie kamen Sie dazu, in diesem Chaos mit dem Bloggen zu beginnen?

Anfang 2012 war ich politisch sehr aktiv, ging auf Demonstrationen und arbeitete für Hilfsorganisationen. Aber im Juni 2012 hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Zu dieser Zeit war es einfacher zu sterben, als einen Cappuccino zu bestellen. Dein Telefon klingelte, und du hörtest, dass Person X getötet wurde, oder dass Person Y in einem schwarzen Sack am Straßenrand gefunden wurde. Eine solche Erfahrung kann niemand aushalten. Ich fragte mich: Warum wurde ich nicht erschossen? Ich bekam eine sehr ernste Depression, drei Monate lang ging ich nicht aus dem Haus.

Was passierte dann?

Im September 2012 las ich in den Nachrichten, dass ein Dorf in Zentralsyrien bombardiert worden war. Dabei war ein Mädchen enthauptet worden. Sie trug ein hübsches Kleid, nichts war mit ihrem Körper passiert, nur der Kopf war abgeschnitten. Das Foto ging durch alle Medien. Ich hatte das Gefühl, ich müsste etwas darüber schreiben. Also startete ich ein Blog. Über den ersten Text schrieb ich: "Ein Blog für ein Mädchen, das seinen Kopf verlor." Ich dachte: Schreiben ist das Einzige, was mir hilft, nicht verrückt zu werden. Und es half. Sehr.

Jetzt, da Sie in Schweden leben - wie wollen Sie Ihren politischen Aktivismus fortführen?

Ich will ehrlich sein: Nach Schweden zu gehen, war ein individueller Rettungsplan für mich persönlich. Trotzdem kann ich vieles von hier aus tun. Ich habe eine Gruppe mitgegründet, sie heißt "Syrien-Malmö-Solidaritäts-Gruppe", und sie hat über 6000 Euro an verschiedene kleine Gruppen in Syrien geschickt.

An bewaffnete Gruppen?

Nein, nein! An Organisationen, die humanitäre Hilfe leisten, sich um Bildung und medizinische Versorgung kümmern. Außerdem habe ich ein monatliches Treffen initiiert, den "Damaskus-Salon in Malmö". Dort sprechen ich und andere Syrer über die Situation in unserem Land. Was in den europäischen Medien geschrieben wird, ist leider oft falsch. Deshalb wollen wir unsere eigenen Erfahrungen mit einem schwedischen Publikum teilen.

Wo genau liegen Ihrer Meinung nach die Fehler in der Berichterstattung?

Sie stellen den Mörder und das Opfer auf die gleiche Stufe. Aber das hier ist ein sehr ungleicher Konflikt. Außerdem beschreiben sie den Konflikt als einen Bürgerkrieg. Tatsächlich ist es aber ein Stellvertreter-Krieg. Viele verschiedene Parteien kämpfen in Syrien, das Regime wird unterstützt von Russland und Iran und Kämpfern der Hisbollah.

"Es wird eine Phase des Chaos geben"

Was erwarten Sie von den westlichen Regierungen?

Zumindest erwarte ich, dass sie der UN das Geld geben, das sie für humanitäre Projekte in Syrien braucht. Die Leben von Millionen von Menschen hängt davon ab. Zwei Millionen Kinder gehen seit zwei Jahren nicht mehr zur Schule. Wenn UNICEF nicht jetzt sofort finanziert wird, dann werden wir eine Generation von Analphabeten aufziehen. Außerdem sollte der Westen die FSA [Freie Syrische Armee, d. Red.] systematisch unterstützen. Manche behaupten, Syrien sei das neue Land des Extremismus, aber das stimmt nicht. Das wird nur passieren, wenn der Westen der FSA nicht hilft.

Ist die FSA eine moderate Organisation?

Ja. Es gab und gibt Extremisten in der FSA, aber die verlassen die Organisation und schließen sich extremistischen Milizen an. Und diese Milizen bekommen Geld und Waffen aus dem arabischen Ausland, während die moderaten Rebellen komplett allein gelassen werden. Wäre ich ein Kämpfer der FSA und niemand würde mich bezahlen, ich würde mich auch einer extremistischen Miliz anschließen. Das ist Logik, Eins plus Eins. Ja, es gibt moderate Kämpfer in Syrien. Aber wenn man sie allein lässt, dann werden die Extremisten die Oberhand gewinnen.

Hätten Sie einen Militärschlag der USA gegen das Regime befürwortet?

Eine schwierige Frage. Emotional gesehen, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Amerikaner meinem Land Demokratie bringen. Auf der anderen Seite: Ideologie sollte in die Hölle geschickt werden, wenn es um menschliches Leid geht. Die Menschen in Syrien müssen über diese Frage entscheiden. Und ich weiß von meinen Gesprächen mit ihnen über Skype, dass es ihnen egal ist, ob die Amerikaner angreifen, die Briten oder die Deutschen - alles, was sie wollen, ist das Regime loszuwerden. Ich habe mehrfach bei öffentlichen Diskussionen in Schweden so argumentiert. Ironischerweise passiert es mir dann oft, dass jemand im Publikum aufsteht und ruft: "Du bist ein Imperialist!"

Dieser Vorwurf kommt häufig aus Reihen der Linken. Wie bewerten Sie die Haltung der europäischen Linken zu Syrien?

Ich bin enttäuscht von den europäischen Linken. Ihr Blick auf Syrien ist ideologisch, nicht praktisch. Sie denken: Dort kämpft ein säkulares Regime gegen Islamisten, und sie fragen: Warum sollten wir eine Revolution gegen ein säkulares Regime verteidigen, das doch zu unserer Ideologie passt? Außerdem haben sie Sympathie für Assad, weil sie ihn als einen Widersacher Israels sehen. Aber Assads Widerstand gegen Israel ist ausschließlich rhetorisch. Wann hat er denn Israel jemals Widerstand geleistet, außer in seinen Reden? Es gab unter Assad nie einen Konflikt an der syrisch-israelischen Grenze. Zur gleichen Zeit sitzen mehr Palästinenser in syrischen Gefängnissen als in israelischen. Diese altmodische Ideologie, die internationale Konflikte in Schwarz und Weiß einteilt, in Amerikanisch und Anti-amerikanisch, ist so dumm.

Falls Assad fällt: Was wird aus Syrien?

Es wird eine Phase des Chaos geben, bis zu fünf Jahre lang. Es wird sehr schwer werden und auch blutig. Aber es gibt keine andere Möglichkeit.

Was ist Ihr Traum für Syrien?

Mein Traum ist, dass es eines Tages ein Land nur für die Syrer sein wird. Nicht für die Amerikaner oder die Russen oder die Franzosen. Wir sind ein sehr zivilisiertes Volk in einem sehr zivilisierten Land. Ich träume davon, dass wir eines Tages unsere Kultur und unser internationales Ansehen wiedererlangen, und dass wir eine Demokratie aufbauen, in der jeder den anderen akzeptiert. Kein Schwarz und Weiß mehr, sondern ein Land voller Farben und einer Fülle von Ethnien und Minderheiten.

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