Syrischer Flüchtling in Deutschland:Die wichtigsten Dinge, die ich aus Syrien mitgebracht habe

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Mit der Zeit legt man alte Gegenstände ab, die Erinnerung aber bleibt. (Foto: Stephan Rumpf)

Was nimmt man mit, wenn man sein altes Leben zurücklassen muss? Wovon trennt man sich? Unser syrischer Kolumnist über seine wertvollsten Erinnerungsstücke.

Von Yahya Alaous

Jedes Mal, wenn ich ein Ding, das ich aus Syrien nach Berlin mitbrachte, wegwerfen möchte, dann spüre ich, dass ich wieder eine kleine Bindung in meine Heimat kappe. Also lasse ich mir mit dem Entsorgen viel Zeit, auch wenn ich den Gegenstand oder das Kleidungsstück längst nicht mehr benutze oder trage.

Mit der Zeit werden die wertvollen kleinen Erinnerungen ein wenig angekratzt oder gehen kaputt; sie bleichen aus, wirken auf mich alt und irgendwie - unangemessen. Wie zum Beispiel meine alten Schuhe aus Syrien, eine Hose oder die Wollmütze, die mir meine Mutter einsteckte, als ich Syrien im März letzten Jahres in Richtung Norden verließ.

Nun ersetzen neue Dinge die alten. Meist in schöneren Farben, immer von besserer Qualität. Aber irgendwie, so scheint es mir, passt alles nicht so recht zusammen. Den Dingen fehlt die Wärme, die sie durch Erinnerungen bekommen.

In Deutschland friert einem die Nase ab

Jedes Mal, wenn ich mit meiner Mutter telefoniere, besteht sie darauf, mir warme Kleidung schicken zu wollen. Ich sage dann, dass es hier wunderbare Schutzkleidung gegen die Kälte gibt. Sie betont immer wieder, dass sie wisse, wie bitterkalt Deutschland sei. Schließlich habe eine Nachbarin ihr berichtet, dass Menschen hier vor Kälte sogar die Nase abfallen könne!

Um meine Mutter zu beruhigen, habe ich ihr bereits viele Fotos von mir in verschiedenen dicken Winterjacken geschickt. Trotzdem bin ich mir noch unsicher, ob diese Methode funktioniert, um ihr die Sorgen zu nehmen. Sie soll aber sicher sein, dass es mir gut geht, sich nicht sorgen und mühen, einen Transportweg zu finden. Niemand würde die Geschenke meiner Mutter über die Ägäische See bringen.

Natürlich ist der Gedanke, warme Kleidung von seiner liebenden Mutter geschickt zu bekommen, ein wunderschöner. Selbst wenn es nur ein billiges Teil aus China wäre (wir hatten in Syrien sehr viel billige Kleidung aus chinesischer Produktion). Trotzdem bedeuten mir die Sachen, die ich mitgebracht habe, viel; sie sind eine Verbindung mit meiner Vergangenheit, zu anderen Zeiten und ganz anderen Orten. Es ist nur meine Vorstellungskraft und der Geruch, der irgendwelchen Alltagsgegenständen so eine Bedeutung verleiht.

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In Syrien wurde Kleidung an die Brüder weitergegeben

Viele Flüchtlinge in Deutschland nehmen, nach Jahren des Hungerns in Flüchtlingslagern oder in den von Assad belagerten Städten, Gewicht zu. Viele nehmen aber auch ab, zum einen, weil sie mit dem deutschen Essen nicht zurechtkommen, zum anderen, weil sie in permanenter Sorge um ihre Angehörigen im Krieg oder in Camps sind.

In Syrien haben Brüder ihre kleinen Besitztümer, Spiele oder natürlich auch Kleidung, immer untereinander zirkulieren lassen. Wie schön es war, wenn der kleine Bruder sich über etwas freute, aus dem man herausgewachsen war! Nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen - auch wenn das der Hauptgrund für diese Tradition ist - sondern auch, weil der ältere Bruder normalerweise ein Idol für den jüngeren ist. Und jedes von diesem Vorbild abgelegte Stück brachte den neuen Träger auf seinem Weg, ein Mann zu werden, wieder ein wenig weiter.

Wenn ein Flüchtling hier in Deutschland aus seiner Kleidung herausgewachsen ist, hat er meist keine Brüder, keine Neffen oder kleinen Cousins hier, denen er sie vermachen kann. Der einzige Weg, um sie vor dem Verbrennen zu bewahren, besteht darin, sie in einen der Container vom Roten Kreuz zu schmeißen und zu hoffen, dass sie einen neuen Besitzer erfreuen werden. Leider wissen noch nicht viele Flüchtlinge von dieser Möglichkeit zu helfen.

Natürlich unterscheiden sich die Dinge, die Menschen aus ihrer alten Heimat mitnehmen je nach Fluchtmöglichkeit. Diejenigen, die über das Meer kommen, müssen ihr kleines Gepäck am sorgfältigsten zusammenstellen. Vor zwei Monaten ertrank eine Frau vor der griechischen Küste. Ihr Tagebuch wurde gefunden. Sie hatte in ihm ergreifende Briefe an ihren Geliebten, der schon in Deutschland war, verfasst.

Diejenigen, die wie ich das Glück hatten, dem Krieg mit dem Flugzeug den Rücken kehren zu können, hatten natürlich größere Auswahlmöglichkeiten bei der Zusammenstellung ihres Gepäcks. Aber dank meiner beiden kleinen Töchter war meine Auswahl ebenfalls beschränkt, denn schließlich musste fast all ihr pinkfarbener Besitz unbedingt mit nach Deutschland. Ich war überglücklich, als eine Freundin Monate später so lieb war, nach einem Beirut-Besuch meine dort deponierten sieben Kilo Bücher nach Berlin zu schleppen.

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Mit dem Geruch schwindet die Erinnerung

Natürlich kann man seine Lieblingssachen nicht für immer tragen, auch nicht aufbewahren. Auch wenn man das Teil im Schrank verstaut, um es zu erhalten, verliert es doch mit der Zeit den Geruch. Dann verliert man die Erinnerung an die Farbe der Knöpfe, und eines Tages vergisst man vielleicht, wie man vor dem Spiegel gelächelt hat, als man es zum ersten Mal trug.

Man kann aber natürlich auch hoffen, dass es eines Tages im Museum für Erinnerungen von geflüchteten Menschen hängen wird. Genauso, wie ich es in meinem ersten Heim in Deutschland, in Berlin-Marienfelde, einer ehemaligen Notunterkunft für DDR-Flüchtlinge, sah: Dort steht das Flüchtlings-Museum, in dem genau diese kleinen und doch so wichtigen Gegenstände präsentiert werden. Kleidung, Werkzeuge, Spielzeuge und Taschen, die Flüchtlingen gehörten, die vor Jahrzehnten aus der DDR, Polen und anderen Ländern flohen. Später gingen diese Geflüchteten in der Gesellschaft auf, und heute erinnern nur noch diese Ausstellungsobjekte an ihre Geschichten.

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Das Wertvollste bleibt

Tag für Tag lege ich mehr von meinen alten Sachen ab, aber eine Erinnerung wird für immer bei mir bleiben. Das eine Ding, das ich bis ans Ende meines Lebens bei mir tragen werde, ist eine Brieftasche, die mir meine Frau am Jahrestag unserer Hochzeit schenkte. In ihr trage ich immer die Beschwörungsformel, die mein Vater mir schrieb, als ich Anfang der 2000-er Jahre als politischer Gefangener im syrischen Gefängnis saß.

Die beiden Dinge sind mein allerwichtigster Besitz. Die Geldbörse und dieser kleine Zettel, den ich bei meiner Rückkehr in meine Heimat dabei haben werde. Vielleicht werde ich sie dann entsorgen. Dann, so fühle ich, werde ich mich dabei nicht schuldig fühlen.

Aber wer weiß, vielleicht werde ich dazu nicht in der Lage sein. In ein paar Jahren werden vielleicht Studenten in eine Vitrine des Flüchtlingsmuseums schauen und eine schwarze Wollmütze dort sehen. Und neben meinem Exponat wird der Satz stehen: "Das ist eine Mütze, die ein Syrer, der dem Krieg in seinem Land 2015 entfloh, von seiner Mutter als Schutz vor dem Wetter mit auf die Reise bekommen hat."

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