Syrischer Flüchtling in Deutschland:Die Deutschen wollen uns als Ersatzteillager!

Rückgang der Organspendezahl

Nur eine kleine Gruppe von Muslimen empfindet Transplantationen als ein religiöses Tabu und stellt sich dagegen.

(Foto: Steffen Trumpf/dpa)

Viele Syrer haben eine Schwäche für Verschwörungstheorien - und ein verdächtiges Schreiben in ihrem Briefkasten gefunden: eine Aufforderung zur Organspende.

Von Yahya Alaous

Umm Kamal ist eine syrische Frau, die vor einem Jahr alleine nach Deutschland kam, in der Hoffnung, später mit ihrer Familie wieder vereint zu werden. Seit ihrer Ankunft musste sie Hunderte von Dokumenten unterschreiben, aber da sie weder arabische noch deutsche Buchstaben lesen oder schreiben kann, ist sie immer auf die Hilfe ihrer Nachbarn im Heim oder anderer freundlicher Menschen angewiesen, damit sie den Inhalt verstehen kann.

Sie erinnert sich nicht an jeden einzelnen Inhalt all dieser Papiere, die sie zur Kenntnis nehmen und unterschreiben musste. Aber sie bewahrt jedes einzelne Stück Papier, das sie in Deutschland erhielt, sorgsam auf. Sie sammelt alle Quittungen, ärztliche Rezepte, all ihre abgelaufenen U-Bahn-Monatskarten, da jemand ihr sagte, in Deutschland müsse sie alles aufbewahren, für den Fall, dass sie es eines Tages brauchen würde. Mittlerweile hat sie in ihrem kleinen Zimmer im Heim ein beachtliches Papierarchiv.

Ein Brief aber war sehr beunruhigend für Umm Kamal, sie erhielt ihn einige Monate nach ihrer Ankunft in der vermeintlichen Sicherheit. In dem Brief wurde sie aufgefordert, ihre Organe nach dem Tod zu spenden. Sie sagt, sie sei sehr durcheinander gewesen und könne sich nicht mehr erinnern, ob sie einen Fehler gemacht und akzeptiert habe, ihre Organe zu spenden. Sie konnte an kaum etwas anderes mehr denken und bekam Albträume, in denen sie blind war und jemand anderes mit ihren Augen sehen konnte. Nichts konnte sie beruhigen. Vielleicht hätte es geholfen, wenn sie das Papier, auf dem man nach ihren Organen trachtete, mit eigenen Händen zerrissen hätte, aber das traute sie sich nicht.

Verschwörungstheorien sind unter uns Syrern weit verbreitet

Diese schriftliche Aufforderung zur Organspende, welche alle registrierten Flüchtlinge hier nur ein paar Monate nach ihrer Ankunft erhalten, dieses Papier, anhand dessen sie entscheiden sollen, was mit ihrem Körper nach ihrem Tod geschehen soll, wirkt er- und abschreckend. Mir ist kein Fall bekannt, in dem ein Syrer der Organspende zugestimmt hätte.

Dabei geht es nicht um religiöse Prinzipien. Organspende ist im Islam generell erlaubt; nur eine kleine Gruppe von Muslimen empfindet Transplantationen als ein religiöses Tabu und stellt sich dagegen. Es sind vielmehr diejenigen, die an ein Leben nach dem Tod glauben, die sich um den Verlust eines Organs oder Körperteils sorgen.

Yahya Alaous

arbeitete in Syrien als politischer Korrespondent einer großen Tageszeitung. Wegen seiner kritischen Berichterstattung saß der heute 42-Jährige von 2002 bis 2004 im Gefängnis, sein Ausweis wurde eingezogen, ihm wurde Berufsverbot erteilt. Nach der Entlassung wechselte er zu einer Untergrund-Webseite, die nach acht Jahren vom Regime geschlossen wurde. Während des Arabischen Frühlings schrieb er unter Pseudonym für eine Oppositions-Zeitung. Als es in Syrien zu gefährlich wurde, flüchtete er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Deutschland. Seit Sommer 2015 lebt die Familie in Berlin. In der SZ schreibt Yahya Alaous regelmäßig über "Mein Leben in Deutschland".

Ich weiß nicht, ob auch die anderen Nationen das Problem mit Verschwörungstheorien haben, unter uns Syrern sind diese Theorien weit verbreitet. Viele von uns neigen dazu, alle Geschehnisse unter Aspekten der großen Verschwörung zu betrachten. Das beginnt auf persönlichem Level ("alle im Büro sind gegen mich"), es geht über ins Nationale und Internationale, selbst Bashar al-Assad selbst spricht mindestens drei Mal wöchentlich von der Verschwörung gegen sein Regime.

Auf die Frage, warum Deutschland so viele hilflose Menschen aufgenommen habe, gibt es in der Verschwörungskiste Dutzende Antworten, sie variieren von "Experte" zu "Experte". "Man braucht uns als billige Arbeiter, als Bauarbeiter und als Putzkräfte", ist eine weit verbreitete Interpretation. Eine andere: "Sie wollen, dass wir die Windeln der Alten wechseln, die von den Kindern verstoßen im Heim leben."

Und dann erhielt einer dieser Verschwörungsexperten einen Brief, in dem er aufgefordert wurde, seine Organe zu spenden ... Selbst ich spürte in diesem Moment spontane Nierenschmerzen. Nun endlich war alles klar, das neueste Kapitel der Verschwörungstheorie war geboren: Sie wollen uns als Ersatzteillager für ihre Bürger!

Zum großen Teil scheinen diese "Experten" eines überhaupt nicht mitbekommen zu haben: dass es Hunderte von blonden Männern und Frauen waren und sind, die die Flüchtlingsheime reinigen und in Ordnung halten. Die dazu noch unermüdlich die Parkwege von den Schalen der Sonnenblumenkerne befreien, die sich überall dort ansammeln, wo mehrere Syrer auf einer Bank sitzen.

Das Behördendeutsch stellt selbst meine deutschen Freunde vor Probleme

Die größte und scheinbar unendliche Quelle für Dokumente ist für mich das Job Center und weitere Behörden. Zig Papiere sammeln sich jede Woche in meinem Briefkasten - die Steuernummer, die Rentennummer, zahlreiche Informationen zu diesen Nummern in bestem Behördendeutsch, das selbst meine deutschen Freunde nur mit Schwierigkeiten zu übersetzen vermögen. Dazu kommen Nachrichten der Fernseh- und Radiosender, die Geld für Dienstleistungen verlangen, die man nicht nutzt. Dann kommt immer noch etwas vom Stromanbieter, Werbung von Banken, weitere Werbung ...

Das letzte Schriftstück in meinem Briefkasten war allerdings etwas Persönliches, es war eine kleine Notiz meines Nachbarn. Er schrieb: "Seit Du aufgehört hast zu rauchen, hustest Du jede Nacht so laut, dass ich nicht mehr schlafen kann. Ich bitte Dich: Geh zum Arzt oder fang wieder an zu rauchen!" Oh lieber Gott, was ist das denn nun? Es scheint sich um eine ernsthafte Verschwörung zu handeln.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: