Syriens Nachbarstaaten:Wenn die Flüchtlingswelle ein Land überrollt

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Westlich des türkisch-syrischen Grenzübergangs bei Kobanê (zwischen Mürşitpınar und Yumurtalık) stehen Tausende von Flüchtlingen zurückgelassene Fahrzeuge. Die Grenze sind hier die Gleise der Bagdadbahn unten links im Bild. (Foto: European Space Imaging)

Assads Fassbomben auf der einen, die Klingen des IS auf der anderen Seite. Hunderttausenden Syrern bleibt nur die Flucht. Es sieht nicht so aus, als könnten sie bald zurück. Was macht das mit den Aufnahmeländern?

Von Christiane Schlötzer und Ronen Steinke

Wenn es Abend wird in Libanon, müssen neuerdings viele Menschen von den Straßen verschwinden. Es treten dann Ausgangssperren in Kraft, ein neues Phänomen in diesem Herbst. "Ausländer" oder "ausländische Arbeiter", so erklärt zum Beispiel ein Banner, das über die Hauptstraße des christlichen Dorfs Rahbe gespannt ist, unweit der syrischen Grenzstadt Homs, dürfen nach 20 Uhr nicht mehr nach draußen gehen und sich nicht mehr versammeln.

Das Wort "Syrer" fällt nicht. Trotzdem ist klar, dass sie gemeint sind: die vielen Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland, die man hier nirgends mehr übersehen kann. Mehr als eine Million Syrer sind nach Libanon geflohen, in ein Land, das selbst nur vier Millionen Einwohner hat. Manche leben in angemieteten Wohnungen, auch in den teureren Vierteln Beiruts; die meisten aber in den etwa 300 improvisierten Siedlungen aus Wellblech und Planen, die sich über das ganze Land verteilen.

Unter ihrem Andrang sind die Mietpreise in die Höhe geschnellt, gleichzeitig sind die Löhne für einfache Arbeiten abgestürzt. Das sind Zutaten für Fremdenhass. Die Zahl der Städte und Dörfer, die nun Ausgangssperren verhängt haben, ist seit August in die Höhe geschnellt, auf 45, wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet. Zugleich mehren sich Berichte darüber, wie libanesische Privatpersonen Flüchtlinge als "Terroristen" beschimpfen, mit Messern attackieren, verprügeln, beschießen.

Libanon, dieser kleine, an politischen Tumulten ohnehin reiche Vielvölkerstaat, zeigt sich ratlos. Das überrascht nicht angesichts der Größe dieses historischen Einschnitts. Eine syrische Minderheit hat es hier schon immer gegeben. Aber jetzt sind die Neuankömmlinge so zahlreich, dass sie den ethnischen Mix im Land durcheinanderwirbeln und damit auch das fragile politisch-demografische Gleichgewicht, das hier so wichtig ist. Und vor allem macht die Frage nach der Zukunft bang: Der Krieg in Syrien ist in seinem vierten Jahr, inzwischen leben die Menschen dort zwischen Hammer und Amboss, zwischen den Fassbomben des Diktators Assad und den Klingen der Dschihadisten vom Islamischen Staat - kurz: Es sieht nicht danach aus, als könnten die Flüchtlinge bald heimkehren.

Das Flüchtlingslager Saatari ist mittlerweile die fünftgrößte Stadt Jordaniens

"Es gibt manche syrische Flüchtlinge, die nur darauf warten, dass Assad den Beschuss ihrer Heimatstadt beendet, dann wollen sie sofort zurückkehren", sagt Lama Fakih, 39, eine Libanesin, die im Auftrag von Human Rights Watch durchs Land reist. Die meisten aber hätten diesen Optimismus nicht. Wenn sie nach vorne blickten, gehe es um die Frage, ob sie sich fest in ihrer neuen Heimat einrichten müssten.

Im Nahen Osten kommt da schnell eine historische Parallele in den Sinn; sie bildet die Folie, vor der jetzt nach politischen Strategien gesucht wird. Nicht nur in Libanon, sondern auch in Jordanien, wo das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bereits mehr als 600 000 syrische Flüchtlinge zählt, und in der Türkei, die nach dieser Zählung mehr als eine Million aufgenommen hat. Mehr als 60 Jahre ist es her, dass Hunderttausende Palästinenser ihre Heimat verließen, ihre Hoffnung auf Rückkehr hat sich seither nie erfüllt. Aus den Flüchtlingslagern von einst sind stattdessen Großstädte gewachsen - in Libanon, in Jordanien. Das hat diese Länder dauerhaft verändert.

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:Was macht die Flüchtlingswelle mit den Aufnahmeländern?

Der Libanon wird syrischer, die Türkei kurdischer. Flüchtlinge aus Krisengebieten suchen Schutz in Nachbarländern und verändern sie dadurch. Der Umgang mit den "Gästen" sagt viel über die Gastländer aus. Das gilt auch für Deutschland.

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In Jordanien wurden die palästinensischen Flüchtlinge eingebürgert, heute bilden sie und ihre Nachkommen die Hälfte der Bevölkerung. In Libanon stehen sie als Minderheit zwar noch immer im Abseits, sind aber mit mehreren Hunderttausend Menschen ein starker politischer Faktor. Nun wird ihre Gruppe in den Schatten gestellt durch die neue, ungleich größere Flüchtlingswelle aus Syrien.

Die historische Parallele zu den Palästinensern ist den Libanesen heute eine Warnung. In den Siebzigerjahren entwickelten die Palästinenserlager rund um Libanons Hauptstadt Beirut ein reges politisches Eigenleben - der eine Straßenzug gehörte der Palästinenserorganisation PFLP, der andere der Fatah. Heute will Libanon unbedingt vermeiden, dass sich das wiederholt. Deshalb soll es für syrische Flüchtlinge keine Ballungszentren geben, die libanesische Regierung verhindert den Bau von größeren Lagern. Nur "Transitlager" sind gestattet; dort darf offiziell niemand länger als drei Monate bleiben. "Der UNHCR wird sogar daran gehindert, Zelte aufzustellen", erzählt die deutsche Forscherin Susanne Schmetter, 31, die in Beirut lebt und das Leben der Flüchtlinge dokumentiert. Mit dieser Vorsicht offenbaren die libanesischen Behörden, dass sie mit einer Situation rechnen, die sich leicht zum Dauerzustand verfestigen kann. Und in der vergangenen Woche schlossen sie auch erstmals die Grenze. "Wir können einfach nicht noch mehr Menschen aufnehmen", erklärte die Regierung.

Jordanien setzt unterdessen auf klassische Flüchtlingslager in Grenznähe. Einige dieser Lager wachsen bereits zu Großstädten heran, so in Saatari: Es gibt dort eine Basarstraße, Obstläden, Kleidungsgeschäfte, das Lager ist mit mehr als 100 000 Bewohnern die fünftgrößte Stadt Jordaniens. So bleiben die Flüchtlinge unter sich, die Jordanier auch: Was das Königshaus in Amman vermeiden will, ist die Vermischung der Bevölkerungen - gerade deshalb, weil es vor allem syrische Palästinenser sind, die als Flüchtlinge in großer Zahl hierherkommen. Jordanien verwehrt dieser Gruppe inzwischen pauschal die Einreise und rechtfertigt dies mit der Sorge vor Instabilität; selbst von Rückschiebungen ist die Rede. Freilich kommt das zu spät, um noch etwas ändern zu können an diesem Befund nach vier Jahren Syrienkrieg: Jordanien wird palästinensischer.

So wie das kleine Libanon, das ohnehin stets einen starken syrischen Einschlag hatte, syrischer wird.

So wie die Türkei kurdischer wird. Der bislang letzte Flüchtlingsstrom in die Türkei kam aus der seit Wochen umkämpften Kurdenenklave Kobanê; 198 000 Menschen, so der örtliche Gouverneur. Die neuen Schutzsuchenden wurden von einer kurdischen Solidaritätswelle empfangen. Viele Kurden zu beiden Seiten der Grenze sind verwandt, und die es nicht sind, nahmen auch ganze Großfamilien bei sich auf. Die Türkei ist unter allen Aufnahmeländern in der Region am ehesten bereit, den Flüchtlingen einen Platz in ihrer Gesellschaft einzuräumen. Die türkische Regierung nennt sie "Gäste". Die Flüchtlinge aus Syrien erhalten einen Status, um den viele andere Flüchtlinge - aus Pakistan, Iran, Irak - sie nur beneiden können. Sie dürfen kostenlos staatliche Krankenhäuser nutzen, und wer sich registrieren lässt, soll nun auch eine Arbeitsgenehmigung erhalten. Damit reagiert die Regierung auf die Not der Flüchtlinge, die bislang oft für Hungerlöhne schwarz arbeiten. Nach einer Untersuchung der Haceteppe Universität in Ankara glauben 56 Prozent der Türken, Syrer nähmen ihnen die Arbeit weg.

Syrer brauchen kein Visum für die Türkei. Die Regierung nennt sie hier "Gäste"

Mit der Politik der offenen Arme über-nimmt Ankara auch ein Stück Verantwortung für seine Syrien-Politik. Recep Tayyip Erdoğan, heute Präsident und damals Premier, hat sich früh auf die Seite der syrischen Opposition gegen den Diktator Baschar al-Assad gestellt. Kämpfer der Freien Syrischen Armee fanden in der Türkei rasch einen Rückzugsraum. Oppositionsmedien arbeiten von Istanbul aus. Inzwischen wird die 900 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland angeblich stärker kontrolliert, aber Schmuggler helfen für 20 US-Dollar immer noch durch die Minenfelder. Und: Syrer brauchen kein Visum für die Türkei, wenn sie legale Übergänge finden.

Nur 250 000 Syrer leben in einem der überwiegend grenznahen Lager, die von der Türkei eingerichtet wurden. Die übrigen schlagen sich entweder in Istanbuler Armenvierteln, Parks und bei Verwandten durch. Genau wie in Libanon leben sie auch in der Türkei weit verstreut - aber ohne Ausgangssperren, ohne Schikanen.

© SZ vom 28.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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