Syrien:"Ich war geschockt vom Schock der Welt"

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Menschen werden in Aleppo im Al-Quds-Krankenhaus behandelt. (Foto: REUTERS)

Zaher Sahloul hat seit 2013 mehrmals in Syrien als freiwilliger Arzt gearbeitet - unter anderem in dem Krankenhaus, in dem der kleine Omran behandelt wurde, dessen Foto um die Welt ging.

Interview von Minh Thu Tran

Zaher Sahloul ist ein syrisch-amerikanischer Arzt aus Chicago, der sich auf Intensivmedizin spezialisiert hat. Er gründete die Hilfsorganisation "American Relief Coalition for Syria" und ist ehemaliger Präsident der " Syrian American Medical Society", einer Stiftung, die humanitäre Hilfe für Syrien, vor allem auf dem Gebiet der Medizin, organisiert. Sahloul hat in den vergangenen Jahren in Aleppo und anderen Teilen Syrien als freiwilliger Arzt gearbeitet.

SZ: Doktor Sahloul, stimmt es, dass Sie mit dem syrischen Präsidenten Baschar-al Assad zusammen Medizin studiert haben?

Zaher Sahloul: Ja, sogar sechs Jahre lang. Wir haben zur selben Zeit unseren Abschluss gemacht. Nachdem er Präsident geworden war, habe ich ihn noch dreimal getroffen. Keiner hat jemals erwartet, dass er ein so brutaler Diktator werden würde. Er trat bescheiden auf und war umgänglich. Arrogant habe ich ihn nie erlebt. Aber es scheint so, als wäre er das komplette Gegenteil von der Person, die ich wahrgenommen habe.

Haben Sie Assad auch noch nach Beginn des Bürgerkrieges gesehen?

Nach den ersten Demonstrationen im Jahr 2011 hat er mich und weitere amerikanische Ärzte nach Syrien eingeladen. Ich bin damals nicht gegangen, aber ein Kardiologe aus Ohio flog hin.

Was hat er von dem Treffen erzählt?

Mein Freund hat Assad damals gefragt, was mit Hamza al-Khatib passiert ist, warum es zu dem Fall keine Untersuchung gab. Hamza al-Khatib war ein 13-Jähriger aus Dar'a, der von Assads Sicherheitskräften zu Tode gefoltert wurde. Assad fragte daraufhin zurück: "Wissen Sie, wie viele Brüder der Junge hatte?" Mein Freund konnte das nicht beantworten und sagte: "Was hat das denn mit meiner Frage zu tun?" Daraufhin antwortete Assad: "Er hatte 13 Brüder!" Der Präsident fing an zu lachen. Diese Anekdote gibt einen Einblick darin, wie Assad denkt. Dass ein paar getötete Kinder mehr oder weniger nicht wichtig sind, solange er an der Macht bleibt.

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Seit fünf Jahren tobt der Krieg in Syrien. Wie oft waren Sie seitdem dort?

Seit 2013 habe ich 14 Einsätze in Syrien absolviert. Von meiner letzten Mission in Aleppo bin ich vor einem Monat zurückgekehrt, nur eine Woche, bevor Castello Road von Assads Armee geschlossen wurde (Castello Road war die letzte Versorgungsroute in die von den Rebellen kontrollierten östlichen Gebiete Aleppos; Anm. d. Red.).

War es eine bewusste Entscheidung von Ihnen, Aleppo vor der Belagerung durch die Regierungstruppen zu verlassen?

Wir wussten nicht, dass die Belagerung Realität werden würde als wir da waren. Es gab Gerüchte, aber die Menschen hofften dennoch, es würde nicht passieren.

Wo wurden Sie in Aleppo zuletzt eingesetzt?

Wir arbeiteten in Aleppo im M10-Krankenhaus, demselben Krankenhaus, in dem auch Omran Daqneesh behandelt wurde, der verletzte Junge, dessen Foto weltweit Beachtung gefunden hat. Ich habe insgesamt sieben Kliniken in Aleppo besucht.

Wie viele Kliniken in Aleppo sind derzeit noch in Betrieb?

Das ist unklar. Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, wurden mehrere der Krankenhäuser, die wir besucht haben, von Bomben getroffen und konnten nicht mehr weiterbetrieben werden. Ich glaube, es gibt noch vier Krankenhäuser, in denen noch gearbeitet wird. Nur weil die Krankenhäuser von Bomben getroffen wurden, bedeutet es nicht unbedingt, dass sie geschlossen werden. Oft werden die Patienten in einen intakten Teil des Gebäudes verlegt. Aber viel Fachpersonal ist nicht mehr in Aleppo: Es sind nur noch 35 Ärzte im Osten der Stadt übrig, die mehr als 300 000 Menschen versorgen müssen. Unter ihnen sind nur zwei Gynäkologen und eine einzige Ärztin.

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Wie hat sich die Arbeit der Kliniken durch den Krieg verändert?

Viele Krankenhäuser sind jetzt komplett unterirdisch. Das M10-Krankenhaus war beispielsweise, als ich die ersten paar Male Syrien besuchte, noch ganz normal: Die Notaufnahme war im Erdgeschoss, die Patientenräume im ersten und zweiten Stock. Aber seitdem wurde M10 siebzehn Mal von Bomben getroffen. Inzwischen hat man alles unter die Erde verlegt, selbst die Schlafquartiere für die Ärzte und Schwestern. Das Gebäude darüber haben sie als zusätzlichen Schutz vor Bomben stehen lassen. Jedes Krankenhaus, das ich besucht habe, hatte ähnliche Pläne.

Wie steht es um die Versorgung mit medizinischem Gerät und Medikamenten?

Schlecht. Als ich in Aleppo war, gab es in der ganzen Stadt nur einen CT-Scanner, inzwischen ist der auch kaputt. Wir haben das Arzneimittel-Lager der Krankenhäuser bei der letzten Mission noch mit einem Vorrat für drei bis sechs Monate gefüllt. Doch nun ist der Verbrauch größer, weil es jeden Tag Bombenangriffe und somit mehr Verletzte gibt. Hilfsorganisationen wie die Syrian American Medical Society, für die ich in Syrien war, senden Medikamente und Geräte aus der Türkei nach Syrien und bilden Ärzte und Schwestern aus. Wir stellen Röntgengeräte, Ultraschall-Geräte und andere Maschinen bereit.

Wie nah kam der Krieg zu Ihnen, als Sie sich in Aleppo aufhielten?

Sehr nahe, in Aleppo ist es für jeden Menschen gleich gefährlich. Als ich in dem Krankenhaus gearbeitet habe, gab es alle paar Minuten eine riesige Explosion, die das komplette Gebäude erzittern ließ. Dann schaust du alle anderen an, und die Ärzte und Schwester arbeiten weiter, als wäre nichts passiert. Aber weil alle anderen so normal weitergemacht haben, hat man sich selbst auch relativ sicher gefühlt.

Das klingt nach einem brutalen Alltag - und nach Abstumpfung.

Die Menschen in Aleppo sind sehr hart im Nehmen - und sie wollen leben. Wenn es wieder einen Bombenangriff gab, dann kommen die Krankenwägen und Sanitäter, ziehen Opfer aus dem Schutt und bringen sie ins Krankenhaus. Die Menschen waschen dann das Blut von den Straßen, und nur wenige Stunden später öffnen die Geschäfte wieder. Die Bombenangriffe sind einfach Teil ihres Lebens geworden.

Ich habe während meiner Zeit in Aleppo Märkte und Eiscafés besucht, mitten in der Nacht. Es war Ramadan - und die Menschen tendieren dazu, in dieser Zeit länger aufzubleiben. Man sieht Kinder durch die Straßen laufen und über Trümmer von zerstörten Häusern klettern. Es ist genauso wie in diesen postapokalyptischen Filmen.

Welche Situationen, welche Patienten haben sich bei Ihnen im Kopf eingegraben?

Bei meinem letzten Einsatz habe ich vor allem Opfer von Fassbomben gesehen. Da war zum Beispiel Ahmad, ein fünfjähriger Junge. Schrapnells haben sich bei ihm in den Nacken und in seine Brust eingebohrt und seine Wirbelsäule durchtrennt - er war deswegen vom Hals ab gelähmt. Seine Atmungsmuskeln waren auch gelähmt, deswegen mussten wir ihn an eine Beatmungsmaschine anschließen. Einen Tag nachdem ich Aleppo verlassen habe, ist er gestorben.

Die traurigste Geschichte, die ich miterleben musste, war die der schwangeren 25-jährigen Fatima und ihrer Familie. Sie war in ihrem Haus mit ihren drei Kindern im Alter von neun, sieben und drei Jahren, als ihr Haus von zwei Fassbomben getroffen wurde. Das macht die syrische Armee häufig - sie werfen eine Bombe ab, warten, bis Helfer kommen, und werfen dann noch eine zweite Bombe ab, um so viel Tod und Zerstörung wie möglich zu erzielen. Fatimas ältestes und jüngstes Kind konnten nur noch tot geborgen werden. Das Kind, das sie in sich trug, hat sie auch verloren. Fatima hatte innere Blutungen und musste an lebenserhaltende Geräte angeschlossen werden. Auch ihr Mann wurde dabei verwundet. Nur eins ihrer Kinder hat überlebt - Mahmud, sieben Jahre alt.

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Sind Sie überrascht, dass ausgerechnet das Foto des kleinen Omran die Welt so geschockt hat?

Ich war geschockt vom Schock der Welt. Bilder wie diese sehen wir jeden Tag. Natürlich ist das Bild und das Video des kleinen Omran wirklich herzzerreißend: Wie er überhaupt nicht weint, wie er das Blut an seinen Händen anschaut, wie er, wie jedes Kind, versucht, das Blut am Sitz abzuwischen.

Aber, es gibt viele Bilder wie die von Omran. Und ich werde inzwischen wirklich zynisch - denn es gab auch schon andere Bilder von syrischen Kindern, die viral wurden. Das Bild vom toten Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi, die Bilder der verhungernden Kinder in Madaya, die Opfer des Sarin-Massakers in Ghouta, die Bilder der Flüchtlingskinder in Griechenland. Diese Bilder erregen für ein paar Tage Aufmerksamkeit, aber sie bewegen die Menschen nicht dazu, ihre Regierungen und Entscheidungsträger dazu zu drängen, Hilfe zu leisten. Was bringt dieser Ausbruch an Mitleid, wenn dann keine Taten folgen?

Und "Taten" bedeutet hier nicht ein Bild zu retweeten, sondern seine Regierungen dazu zu bewegen, etwas zu tun, um diese Kinder zu beschützen, um die Bombardierungen zu stoppen. Eine Flugverbotszone zu errichten - so wie es die internationale Gemeinschaft schon in Bosnien getan hat.

Was brauchen die Menschen in Aleppo am dringendsten?

Die Menschen brauchen irgendeine Form von Normalität. Patienten sollten sich in den Krankenhäusern geborgen fühlen. Ich hatte Patienten, die nach der OP gleich nach Hause wollten, weil die Krankenhäuser so oft Ziel von Bombenangriffen sind. Es dürfen nicht ganze Städte oder Viertel von der Außenwelt abgeschnitten und ausgehungert werden. Das sind natürlich Kriegsverbrechen. Ich habe das Gefühl, dass die internationale Gemeinschaft das stillschweigend hinnimmt.

Was halten Sie von den 48-Stunden-Feuerpausen, die die Russen angekündigt haben?

Ich kann Ihnen sagen, was die Menschen in Syrien davon halten: Sie sind nicht wirklich optimistisch. Die Syrer trauen den Russen nicht, denn schließlich sind das die Leute, die Bomben auf Krankenhäuser und Schulen werfen. Die Syrer sind auch enttäuscht von der internationalen Gemeinschaft. Niemand scheint die Russen und die syrischen Regierungstruppen stoppen zu wollen

Was war die Reaktion Ihrer Familie, als Sie angekündigt haben, dass Sie nach Syrien gehen wollten?

Anfangs war meine Familie böse auf mich. Aber nach den ersten Einsätzen haben sie gemerkt, dass ich etwas bewegen kann. Ich halte viele Vorträge über die Situation in Syrien, ich schreibe Berichte darüber. Und beim letzten Einsatz hat mich meine Frau sogar dazu ermuntert, nach Aleppo zu gehen. Nur meinen Eltern in Syrien sage ich nichts. Sie leben in Homs, und sie würden sich zu große Sorgen machen, würde ich Ihnen davon erzählen.

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