Studium:Meine kleine Familie

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Wohngemeinschaften sind bei Studenten beliebter denn je - und das nicht nur wegen der gestiegenen Mietpreise. Dabei ist die WG bei manchen Studienrichtungen begehrter als bei anderen.

Von Johann Osel

Natürlich gibt es all die Horrorgeschichten: Berge von schmutzigem Geschirr, für das sich niemand zuständig fühlen will, und kurios interpretierte Putzpläne; den morgendlichen Kampf ums Badezimmer, damit man pünktlich im Seminar sitzt; laute Musik aus dem Nebenraum oder noch lautere Geräusche durch amouröse Angelegenheiten. Letztlich scheint man sich aber doch zusammenzuraufen in den Studenten-WGs hierzulande. Wenn jetzt die Vorlesungszeit des Sommersemesters beginnt und neue Studenten an die Universitäten kommen, werden mehr junge Leute in Wohngemeinschaften unterkommen als in jeder anderen Art von Zuhause.

Wie Daten des Deutschen Studentenwerks und SZ-Recherchen in ausgewählten Städten zeigen, baut die WG ihren Spitzenplatz als beliebteste Wohnform aus. Fast ein Drittel aller Uni-Studenten teilt sich inzwischen Dusche und Küchentisch. Zum Vergleich: 1997 waren es 20 Prozent. Auf Platz zwei, aber mit deutlichem Abstand, liegt aktuell das "Hotel Mama". Dies dürfte auch daher rühren, dass viele Erstsemester wegen des achtjährigen Gymnasiums und dem Ende der Wehrpflicht jünger sind. Nur ein Fünftel aller Studenten leistet sich ein eigenes Appartement, noch weniger leben mit Partner oder schon mit Kindern zusammen; jeder Zehnte hat einen Platz im Wohnheim. Untermiete gibt es kaum noch, während früher ein Studentenleben unter den Argusaugen resoluter Zimmerwirtinnen absolut üblich war.

In Marburg lebt sogar fast die Hälfte der Studenten nicht alleine. "Damit sind wir Deutschlands WG-Hauptstadt", sagt Uwe Grebe vom örtlichen Studentenwerk. Seine Erklärung: Zu Zeiten der Studentenrevolte seien linke Hochschüler von überall ins "rote Marburg" gezogen, meist in WGs. Diese Tradition habe sich erhalten. Jedoch: In Frankfurt, früher Zentrum der 68er-Bewegung, liegt der WG-Anteil auf Bundesniveau. Es gibt also nicht den einen Grund für WGs.

Klar, es geht um die Kosten: Im Schnitt zahlen Studenten für ein WG-Zimmer 280 Euro, für Einzelwohnungen dagegen 357 Euro. Wohngemeinschaften sind aber nicht nur eine Notlösung: Nur 17 Prozent der WG-Bewohner sind laut Umfragen unglücklich damit. Männer wählen diese Wohnform genauso gern wie Frauen. Das Studienfach ist aber relevant: Eher als WG-Muffel gelten Juristen, Ingenieure und Wirtschaftswissenschaftler; viel häufiger im Kollektiv wohnen Mediziner, Sozialwissenschaftler und Lehrer.

Es gebe aber auch Ursachen, die nichts mit Geld zu tun haben, meint der Soziologe Janosch Schobin, der zu "gesellschaftlichen Dynamiken der Einsamkeit" geforscht hat. Freundschaft, die durchaus Basis einer Wohngemeinschaft sein kann, sei "zum Fluchtpunkt sozialer Hoffnungen" geworden. Wegen der niedrigen Geburtenrate hätten viele Leute "spärliche Familien, kein soziales Netz aus Verwandtschaft". Die eigene Familienplanung werde stets weiter hinausgeschoben. "Eine WG kann oft zumindest eine familienähnliche Funktion erfüllen."

Eben. Bei einer Grippe bringt der besorgte WG-Genosse heißen Tee ans Bett. Solche Gesten dürften jeden Streit ums Putzen vergessen lassen.

© SZ vom 18.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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