Streit um Schengen-Abkommen:Warum Berlin und Paris die Einheit Europas sabotieren

Der Streit um Europas Grenzen gewinnt an Schärfe: Deutschland und Frankreich preschen mit einem Vorschlag vor, der es den EU-Ländern erlauben würde, das Schengen-Abkommen eigenmächtig auszusetzen. Was bedeutet der Vorstoß? Warum kommt er gerade jetzt? Wird Deutschland tatsächlich von Illegalen überschwemmt? Und: Was hat das mit dem Wahlkampf in Frankreich zu tun?

Fragen und Antworten

Nach innen sollte Europa keine Grenzen mehr haben - das war die Idee hinter dem Schengen-Abkommen. Was einst einer der größten Erfolge der europäischen Einigung war, sorgt seit einem Jahr massiv für Streit: Insbesondere Italien und Frankreich hatten angesichts einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen aus Nordafrika immer wieder auf Änderungen der Regeln für den freien Grenzverkehr gepocht. Und dann provozierte Dänemark die EU, als es auf Drängen der Rechtspopulisten wieder permanente Kontrollen an den Grenzen einführte. Der aktuelle Vorschlag des deutschen Innenministers Hans-Peter Friedrich und seines französischen Kollegen Claude Guéant würde es den EU-Ländern ermöglichen, das bestehende Schengen-Abkommen eigenmächtig auszuhebeln.

Was bedeutet der Vorstoß von Berlin und Paris?

1985 wurde das Schengen-Abkommen von einer kleinen Gruppe von Ländern ins Leben gerufen. Die Idee dahinter: Innerhalb von Europa sollte es keine Grenzen mehr geben, dafür aber eine gemeinsame Grenze nach außen. Jedes Land, das ein Stück dieser Außengrenze besitzt, muss es zum Nutzen aller sichern. Flüchtlinge sind der Dublin-II-Verordnung zufolge dort aufzunehmen, wo sie zuerst den Boden der EU betreten, eine Regelung, die für Deutschland besonders bequem ist: Denn es hat in der EU seit dem Beitritt Polens keine Außengrenzen mehr und kann sich beim Asylverfahren auf die umstrittene Drittstaatenregelung berufen.

Bereits jetzt dürfen die EU-Mitgliedstaaten in bestimmten Ausnahmefällen wie bei sportlichen oder politischen Großereignissen (siehe auch Frage: Welche Ausnahmen gab es bislang?) für bis zu 30 Tage die Schlagbäume herunterlassen. Dies reicht dem deutschen und dem französischen Innenminister aber offenbar nicht aus. Sie fordern in dem Brief an die dänische EU-Ratspräsidentschaft, dass Grenzkontrollen von bis zu 30 Tagen auch als "ultima ratio" möglich sein sollten, falls ein Mitgliedsland seine Pflichten nicht erfülle.

An welche Voraussetzungen sollen die neuen Kontrollen gebunden sein?

Geht es nach Friedrich und Guéant, sollen die nationalen Regierungen selbst bestimmen, ob die Voraussetzungen dafür vorliegen. Dass Brüssel dabei mitentscheiden wolle, sei "nicht verhandelbar", heißt es in dem Brief. Und genau da liegt der Knackpunkt in dem Streit, der um das Schengen-Abkommen schwelt. Auslöser war Anfang 2011 Italien, das sich nach Beginn der Proteste in der arabischen Welt einem Flüchtlingsansturm gegenüber sah. Die italienische Regierung begann, Touristenvisa an Flüchtlinge auszugeben, so dass sich diese im Schengen-Gebiet frei hätten bewegen können. Frankreich führte als Reaktion zeitweise wieder Grenzkontrollen ein. Für Unmut sorgte auch Dänemark, das auf Druck der Rechtspopulisten drohte, permanente Kontrollen an den Grenzen wieder einzuführen (siehe dazu: Wie ist die Situation in Dänemark?).

Die EU-Kommission legte daraufhin Reformpläne vor, die den EU-Ländern eigenmächtige Grenzkontrollen verbieten sollten. Zwar nahm die EU-Kommission auch die Möglichkeit auf, dass sich - bei einer dauerhaft mangelhaften Sicherung der Außengrenzen - die Binnenstaaten wieder abschotten dürfen. Allerdings müsse das die Kommission vorschlagen, oder aber der Staat mit den löchrigen Außengrenzen. Deutschland oder Frankreich wäre dies in einem solchen Fall also nicht möglich. Bereits im September vergangenen Jahres machte Friedrich zusammen mit seinen Kollegen aus Frankreich und Spanien deutlich, was er von diesen Plänen hielt: nichts. Dem aktuellen Vorstoß Friedrichs und Guéants zufolge soll die EU erst nach Ablauf der 30 Tage wieder eingebunden werden. Dann soll der Rat der Mitgliedstaaten entscheiden, ob die Grenzschließung aufgehoben oder fortgeführt werden.

Wie ist die Situation in Dänemark?

Kurz nachdem Frankreich an seinen Grenzen kontrollieren ließ, kündigte Dänemark im Mai 2011 an, seinerseits die Grenzen zu den EU-Nachbarn Deutschland und Schweden dicht machen zu wollen. Auf Plakaten hatten die Rechtspopulisten der Dänischen Volkspartei (DVP) neue Schlagbäume an der Grenze zu Deutschland gefordert, um so "Kriminelle aus Osteuropa" und "illegal einreisende Wirtschaftsflüchtlinge zu bremsen", so die Argumentation der Partei. Die damalige Minderheitsregierung segnete die Pläne als Zugeständnis an die Rechtspopulisten ab. Innerhalb von drei Wochen sollte die Umsetzung beginnen.

Tatsächlich allerdings entpuppten sich die dänischen Grenzkontrollen als weniger dramatisch als angekündigt. Nicht mehr als 30 zusätzliche Zollbeamte wurden an der deutsch-dänischen Grenze eingesetzt, die Kontrollen verliefen stichprobenartig. An den Grenzübergängen zu Schweden waren 20 weitere Beamte vorgesehen. Zwar war noch der Bau neuer Kontrollhäuser geplant, außerdem die Einführung von automatisch arbeitenden Scannern. Doch daraus wurde nichts, denn im Oktober 2011 kam es in Dänemark zu Neuwahlen. Die neue Regierung kündigte an, die Ausländergesetze des Landes zu lockern und stoppte die umstrittenen Grenzkontrollen.

Warum gerade jetzt?

Warum kommen die Forderungen gerade jetzt?

Lampadusa migration

Ein Flüchtlingsboot vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa (Archivfoto von April 2011): Innenminister Friedrich und sein französischer Kollege Guéant pochen auf nationale Souveränitätsrechte, wenn es um die innereuropäischen Grenzen geht.

(Foto: dpa)

Zwar heißt es aus Berliner Regierungskreisen, dass der Brief nicht als Wahlkampfhilfe für Frankreichs bedrängten Amtsinhaber Nicolas Sarkozy zu verstehen sei. In Frankreich wird am Sonntag gewählt. Allerdings hat Sarkozy die Begrenzung der Zuwanderung zu einem der Kernthemen in seinem Wahlkampf gemacht. Auf einer Veranstaltung vor etwa 50.000 Anhänger am Pariser Stadtrand drohte er kürzlich gar mit Frankreichs Austritt aus dem Schengen-Abkommen. Beobachter vermuten, dass Sarkozy mit dieser Strategie der rechtspopulistischen Front National Wählerstimmen abspenstig machen will. Harsche Kritik musste Sarkozy dafür von seinem sozialistischen Herausforderer François Hollande einstecken, Sarkozy beginne, "Europa wie einen Sündenbock zu behandeln", so Hollande.

Außerdem steht im Juni das Treffen der EU-Innenminister an, auf der die Vorschläge zur Schengen-Reform diskutiert werden sollen. Friedrich und Guéant wollen ihren Vorstoß beim Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg am Donnerstag in der kommenden Woche ansprechen.

Welche Ausnahmen sieht das Schengen-Abkommen bereits vor?

Im Schengen-Grenzkodex werden die Voraussetzungen genannt, unter denen bereits jetzt ein Staat vorübergehend wieder Kontrollen einführen darf: Nach Artikel 23 kann ein Land "im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit" für einen begrenzten Zeitraum an seinen Grenzen ausnahmsweise wieder Personen kontrollieren.

Die Maßnahmen dürfen höchstens 30 Tage gelten oder so lange, wie die "schwerwiegende Bedrohung" andauert. Artikel 24 verpflichtet den Staat dazu, die anderen Mitgliedsländer und die EU-Kommission darüber zu informieren und die Gründe zu erläutern.

Die Schengen-Staaten nutzten diese Klausel zum Beispiel, um vor großen Sportveranstaltungen oder politischen Ereignissen zu kontrollieren. So wurde zum Nato-Gipfel in Straßburg und Baden-Baden 2009 das Schengen-Abkommen an der deutsch-französischen Grenze außer Kraft gesetzt. Auch während der Fußball-EM in der Ukraine und Polen wird an der deutsch-polnischen Grenze vorübergehend wieder kontrolliert.

Wird Deutschland von Illegalen überschwemmt?

Was halten die Grenzschützer von den Plänen?

Die Bundespolizeigewerkschaf (DPolG) warnt vor einem "Schnellschuss". So weist ihr Vorsitzender Ernst G. Walter auf die Kosten hin, die durch neue Grenzkontrollen entstehen würden: In diesem Fall müssten "bereits demontierte oder verwahrloste Dienststellen an den Landgrenzen" neu aufgebaut und mit neuester Technik ausgestattet werden. Auch die internationalen Flughäfen wären von den Umbauten betroffen. Zudem würde deutlich mehr Personal benötigt werden. Walter warb stattdessen dafür, die EU-Außengrenzen adäquat zu schützen.

Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) betont im SZ-Gespräch, dass es wichtiger sei, die Kollegen an den Außengrenzen zu unterstützen. Als Beispiel nannte der Sprecher gemeinsame Fortbildungen und forderte eine Diskussion über entsprechende Standards bezüglich der Inneren Sicherheit des Schengen-Raumes. Der Sprecher bezeichnete es als "absurd", dass Paris und Berlin auf befristete Binnen-Grenzkontrollen setzen, um auf mögliche Flüchtlingsströme reagieren zu können. Die Flüchtlingsproblematik sei diffus, man könne nicht an Tagen abzählen, wann sie beginne und wann sie ende.

Wird Deutschland denn tatsächlich von illegalen Flüchtlingen überschwemmt?

Im März stellten die Innenminister von Deutschland, Österreich, Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Schweden und Großbritannien in Brüssel einen Maßnahmenkatalog vor, um die illegale Einwanderung nach Europa zu bremsen. Bei der Gelegenheit sprach Innenminister Friedrich von einem deutlichen Anstieg von Asylbewerbern in Deutschland. Seinen Angaben zufolge erhöhte sich die Zahl der Antragsteller von 28.000 im Jahr 2009 auf 49.000 im Jahr 2011. Ein signifikanter Anstieg, wie Friedrich konstatierte.

Doch zur selben Zeit veröffentlichte das Innenministerim eine andere Zahl für das Jahr 2011: "45.741 Asylanträge, also knapp 46.000", sagt Franziska Vilmar von Amnesty International Deutschland im SZ-Gespräch. Auch kritisiert die Asyl-Referentin, dass man diese Zahl ins Verhältnis zum Vorjahr setzen müsse - und nicht zu 2009. Dann stellt sich der "signifikante Anstieg" schon etwas anders dar: "2010 waren es 41.332 Anträge. Es geht also um eine Steigerung von 10,7 Prozent in diesem Zeitraum", erklärt Vilmar. Der Flüchtlingszustrom fällt also deutlich geringer aus, als dies von Friedrich angegeben wird. Die Zahlen waren nach Angaben der AI-Expertin während der arabischen Revolution und seit dem Zusammenbruch der Kooperation zwischen Italien und Libyen angestiegen, die verhindern sollte, dass von dort Menschen in Richtung Europa aufbrechen. "Aufgrund der aktuellen Umwälzungen und Krisenherde fliehen Menschen verstärkt aus Nordafrika, aus Afghanistan, aus Syrien."

Markus C. Schulte von Drach, Antonie Rietzschel, Mirjam Moll, Nakissa Salavati und Kathrin Haimerl

Mit Material der Agenturen AFP, dpa und dapd

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