Streit um Reform:Regierung drückt neues Wahlrecht durch

Seit dem 30. Juni ist Deutschland ohne gültiges Wahlrecht - jetzt hat die Regierungskoalition im Bundestag ihren hoch umstrittenen Entwurf durchgesetzt. Doch der Streit um die Sitze im Parlament geht weiter: SPD und Grüne haben bereits angekündigt, in Karlsruhe klagen zu wollen.

Susanne Höll, Berlin

Mit großer Verspätung hat die schwarz-gelbe Koalition am Donnerstagabend die Forderung des Bundesverfassungsgerichts erfüllt und ein neues Wahlgesetz verabschiedet. Mit ihrer Mehrheit setzten Union und FDP die Novelle durch, die einen beispiellosen rechtlosen Zustand beenden soll. Seit dem 30. Juni ist Deutschland nämlich ohne gültiges Wahlrecht für den Bund, weil das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das bisherige Gesetz zu diesem Zeitpunkt außer Kraft gesetzt hatte.

Streit ums Wahlrecht

Der Plenarsaal des Deutschen Bundestages: Der Streit um die Sitze im Parlament dürfte weitergehen. Die Opposition hat bereits angekündigt, gegen das neue Wahlgesetz klagen zu wollen.

(Foto: dpa)

Die Opposition stimmte gegen die Novelle; SPD, Grüne und Linkspartei bezeichneten das Gesetz als unzureichend und verfassungswidrig. Da die Regelung nicht zustimmungspflichtig ist, kann sie die Opposition in der Länderkammer nicht stoppen. Sobald Bundespräsident Christian Wulff das Gesetz unterzeichnet hat, wollen SPD und Grüne deshalb das Verfassungsgericht erneut anrufen. Sollte es tatsächlich zu vorgezogenen Neuwahlen im Bund kommen, bevor eine juristische Entscheidung vorliegt, müssten nach Einschätzung der Opposition die Karlsruher Richter vorgeben, nach welchen Regeln diese Abstimmung verlaufen muss.

Das Verfassungsgericht hatte 2008 eine Reform des bisherigen Wahlrechts verlangt, um das sogenannte negative Stimmgewicht zu beseitigen. Damit wird der paradoxe Effekt beschrieben, dass Wähler mit der Abgabe ihrer Zweitstimme der von ihnen unterstützten Partei schaden können. Union und FDP konnten sich intern lange Zeit nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag verständigen und verpassten deshalb die Juni-Frist.

Das neue Gesetz schafft die bisherige Verbindung von Landeslisten einer Partei ab. Damit dürfen die in einem Bundesland erreichten Zweitstimmen einer Partei nicht mehr mit denen in einem anderen Land verrechnet werden. Für die verbleibenden Restvoten werden zum Ausgleich zusätzliche Mandate vergeben. Sie sollen "vorrangig denjenigen Landeslisten zugewiesen" werden, "bei denen mehr Direktmandate als Listenmandate errungen werden", heißt es im Gesetzestext. Dies ist vor allem bei kleineren Ländern wie Bremen der Fall.

SPD, Grüne und Linkspartei kritisieren, dass das von Karlsruhe monierte negative Stimmgewicht dadurch allenfalls gemildert, aber nicht abgeschafft werde. Sie werfen Union und FDP außerdem vor, dass sie die Überhangmandate erhalten wollten, die ebenfalls verfassungswidrig seien. Regierungskoalitionen und Opposition beschuldigten sich gegenseitig, mit ihren jeweiligen Vorschlägen das Grundgesetz zu brechen, und zeigten sich jeweils zuversichtlich, vor dem Bundesverfassungsgericht zu obsiegen.

Die Parlamentarischen Geschäftsführer von SPD und Grünen, Thomas Oppermann und Volker Beck, kündigten an, dass ihre beiden Fraktionen gemeinsam eine Normenkontrollklage in Karlsruhe einreichen würden. Für ein solches Verfahren ist ein Viertel der Mitglieder des Bundestags erforderlich, gemeinsam verfügen die beiden Fraktionen über ausreichend Voten. "Wir sehen uns in Karlsruhe wieder", sagten beide an die Adresse der Koalitionsfraktionen. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hatte sich zuletzt verärgert über das langsame Tempo der Koalition bei der seit drei Jahren anstehenden Reform geäußert und angekündigt, das Gericht werde zur Not selbst eine Regelung präsentieren.

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