Streit um Joachim Gauck:Auf der Suche nach dem verlorenen Freund

Langjährige Wegbegleiter Joachim Gaucks streiten darüber, was einen Bürgerrechtler in der DDR ausmacht - und ob der künftigte Bundespräsident dazugehört. Am Mythos kratzen viele frühere Freunde, und manch einer stellt gar Gaucks Empathiefähigkeit in Frage.

Jens Schneider

In der Nähe des Schweriner Hauptbahnhofs steht bei der Paulskirche das frühere Pfarrhaus aus rotem Backstein. Am Nebeneingang hängt ein Schild: Bürgerbüro für Menschenrechte, Heiko Lietz. Unter dem Namen steht in Klammern: zwei Treppen. "Der Heiko Lietz, das ist ein Einzelgänger." Das war der Hinweis eines früheren Weggefährten des 68 Jahre alten Theologen, eine Art Warnung. Lietz war Mitgründer des Neuen Forums. Einst stand er bei den Grünen im Nordosten in der ersten Reihe, jetzt führt er allein sein Bürgerbüro. Ein anderer sagt: "Der ist immer den geraden Weg gegangen. So einer landet immer bei den Schwachen." Es soll heißen, dass Lietz einen Weg geht, den sein Freund Joachim Gauck, der Bundespräsident werden soll, schon lange nicht mehr teilt.

Gauck soll neuer Bundespräsident werden

Zumindest sind sich alle einig, dass Gauck ein guter Redner ist - wie etwa im November 1989 bei den Montagsgebeten in Rostock.

(Foto: Jürgen Sindermann/ dpa)

Lietz hat Roibuschtee aufgesetzt, dazu stellt er Palm-Zucker, der den Tee cremig schmecken lässt. Der frühere Pfarrer liebt diesen Zucker. "Mein Programm", sagt er. Schmeckt dem Besucher der Palm-Zucker, könnte er ihn im Umwelt-Laden kaufen wollen und auch noch über fairen Handel nachdenken. Lietz führt ein Büro, wie man nicht mehr viele findet: Es gibt keinen Computer, aber viele Bücher. Dazwischen ein Regal voll mit Leitz-Ordnern. "Das sind meine Akten." Die Stasi hat den Mecklenburger jahrelang ausgespäht. Lietz - einst Pfarrer in Güstrow - war schon dabei, als sich zu Beginn der achtziger Jahre die zarten Anfänge der illegalen Opposition in der DDR entwickelten. Er zählte zu denen, bei denen die losen Enden der Opposition zusammenfanden. Die DDR fürchtete ihn so sehr, dass sie ihn unter Hausarrest stellte, als 1981 Bundeskanzler Helmut Schmidt die Stadt besuchte.

Lietz holt ein Buch hervor, Gaucks Autobiographie. Laut liest er eine Passage, in der Gauck über sein Leben als Pfarrer in Rostock schreibt, dass er sich zunächst nicht so rigoros und offen gegen das System gestellt habe wie sein Freund Lietz. Der findet das ehrlich von dem Mann, den er "Jochen" nennt und weiter als Freund sieht. "So ist Jochen Gauck gewesen", sagt Lietz. "Aber dann ist die Kunstfigur aufgebaut worden. Dafür kann man ihn nie verantwortlich machen." Er denkt nach. "Die Frage könnte sein, ob Jochen hätte widersprechen sollen." Als er die vielen Preise entgegennahm, stellvertretend für die Bürgerrechtler. Und jetzt wieder: "Hätte er nicht zur Kanzlerin sagen müssen: ,Liebe Frau Merkel, Sie sprechen mir eine Bedeutung zu, die ich nicht hatte'?"

Dies ist eine Reise in die Welt von Menschen, die vor mehr als 20 Jahren die DDR aus den Angeln hoben. Die viel riskierten, als es kaum Hoffnung gab. Man nennt sie Bürgerrechtler, heute klingt es wie ein Ritterschlag. Aber damals hatten sie Dringenderes im Kopf als die Frage, wann einer ein Bürgerrechtler ist. Es gab keine Mitgliedsausweise. Einer stand für den anderen ein, und der kannte wieder einen, der helfen konnte, an Papier zu kommen für eine Untergrundzeitung. Jetzt entlädt sich bei einigen von ihnen eine über Jahre aufgestaute Empörung, und das wiederum bringt andere Weggefährten auf, die nicht verstehen, wozu nun Angriffe gegen Gauck gut sein sollen. Die Debatte der Veteranen gipfelte in einem Text des pensionierten Pfarrers Hans-Jochen Tschiche, 83, der zu den Gründern des Neuen Forums zählte und Gauck das Recht abspricht, für die Bürgerbewegung zu sprechen: Solange die DDR noch nicht zusammengebrochen war, sei Gauck nicht dabei gewesen.

Lietz kennt Gauck seit einem halben Jahrhundert, aus der Oberschule in Rostock. Freunde wurden sie später, als Gauck den Jüngeren an der Theologischen Fakultät zum Handball einlud. Sie spielten gegen Theologen-Seminare anderer Städte. Man wusste, dass Gaucks Vater in den frühen Jahren der DDR nach Sibirien verschleppt worden war. Über seine Haltung gab es keine Zweifel. "Er lehnte diesen Staat ab. Er war verlässlich." Aber als sich landesweit die Opposition vernetzte, illegal, mit Risiken, da sei Gauck nie dabei gewesen. "Er war in der Friedensbewegung nicht verwurzelt, es war wohl nicht sein Thema." Auch als die Bewegung breiter wurde, sei Gauck nicht unter den Aktivisten, die das Neue Forum gründeten, vorne dabei gewesen. "Ich glaube, er hat sich auf Rostock konzentriert. Dort haben die Leute gesagt: Jochen, du kannst reden! Du musst das machen!" Spät sei Gauck im Neuen Forum aufgetaucht und habe sich nach Berlin wählen lassen, "als der Zug schon längst abgefahren und das Tor weit auf war". Und dann, als die SED kapitulierte, "musste jeder gucken, was ihm wichtig war". Die Kluft, die damals aufbrach, tritt nun wieder zutage. Viele, die von Anfang an dabei waren, hatten von einer besseren DDR geträumt, einem menschlichen Sozialismus in Freiheit, auch Lietz. Gauck sei anders gewesen.

Bald wirkte Gauck, der dann die Behörde für Stasi-Unterlagen führte, auf Lietz wie aus einer anderen Welt. Der Theologe erinnert sich an eine Tagung in den Neunzigern. Er mahnte, die friedliche Revolution sei nicht zu Ende; er wollte für eine gerechte Gesellschaft kämpfen. Sein Freund Jochen habe davon nichts wissen wollen. "Heiko", habe der gesagt, "Leute mit Meinungen, wie du sie jetzt hast, die gehören auf die Couch."

Keine fünf Minuten zu Fuß von Lietz hat Martin Klähn sein Büro. Er grient, als er nach Gaucks Rolle gefragt wird. "Das hört sich an wie früher die Frage: Hast du auch gedient?"

Klähn, Jahrgang 1959, zählt zum Kreis der Gründer des Neuen Forums. "Vieles war zufällig. Ich kam an diesem Tag dazu, weil ich jemanden kannte, der in Berlin die Umweltbibliothek aufgebaut hatte." Klähn wirkt amüsiert. Nein, Gauck sei nicht aufgefallen über Rostock hinaus. "Vielleicht war er kein lupenreiner Bürgerrechtler, aber er kann ein guter Bundespräsident werden." Klähn spricht darüber, wie in den letzten Jahren die Kluft zwischen Ost und West wieder gewachsen sei. "Es ist unglaublich, was für eine West-Feindschaft bei manchen hier zu spüren ist." Bei Menschen, von denen er das nie erwartet hätte. "Da verspreche ich mir viel von Gauck. Er ist ein großartiger Redner."

Vermutlich geht es weniger um Gaucks Geschichte als vielmehr darum, was man sich von einem mit dieser Geschichte verspricht. "Er gehört zu den Typen, die wegen ihres eigenen Erfolgs die Nöte vieler anderer gar nicht mehr wahrnehmen." So formuliert es Pfarrer Tschiche, der den Streit losgetreten hat. Er ist ein fröhlicher Kauz, dem man die Schärfe seiner Kritik kaum zutraut. In der DDR trotzte er als Leiter der Evangelischen Akademie Magdeburg der Obrigkeit. Bei ihm fanden Aufsässige schon Anfang der Achtziger Zuflucht. Nun sitzt er in Satuelle in Sachsen-Anhalt in seiner Küche und erklärt, warum er - selbst mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und erkennbar frei von Neid - den Mythos um Gauck in Frage stellt. Er habe fast nur positive Reaktionen bekommen. "Ich kann ihn ja leiden", sagt er. "Aber ich mache mir Sorgen."

Zur Zeit der SED-Herrschaft sei ihm Gauck nie begegnet, sagt Tschiche. "Im Gegensatz zu dem, was wir Bürgerrechtler nennen, war er auf seine Gemeinde konzentriert." Er erinnert sich, wie sie von einer besseren Welt träumten und spricht davon, wie heute der Druck auf die Menschen immer größer werde, viele um ihre Existenz bangten, keine Sicherheit mehr empfänden. "Das bedrückt mich sehr." Dazu müsste ein Bundespräsident Gedanken entwickeln, sagt er. Gauck traut er das nicht zu. Damals konnten Leute wie Tschiche mit ihrem Traum von einer besseren DDR "für vier Wochen glauben, die Bevölkerung sei unserer Meinung". Aber in den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 siegte Helmut Kohls CDU. "Wir waren nur die Türöffner." Tschiche prägte die Grünen in Sachsen-Anhalt. An die Macht kamen andere. "Das bundesdeutsche System wollte Leute, die sich anpassten. Gauck ist so, wie sie ihn brauchten."

Am Ende führt die Reise nach Rostock, in die Heimatstadt des designierten Präsidenten. Dort hat der Grüne Johann-Georg Jaeger eigentlich keine Zeit, so viele Sitzungen. Aber er will über Gauck sprechen. "Ich frage mich in diesen Tagen oft, was ein Bürgerrechtler ist. War ich einer?" Der Grünen-Politiker, der zu DDR-Zeiten Student war, wartet. Und Gauck? "Er war mutig als Pfarrer." Jaeger hat das Neue Forum in Rostock mit aufgebaut. Gauck kam später dazu. Er ließ sie den Kopierer im Kirchen-Büro nutzen. Im Flur seines Hauses durften sie eine Art geheimen Briefkasten aufhängen, andere trauten sich das nicht. "Nathan Frank stand darauf." Nathan für "Nathan, der Weise", und Frank für "Anne Frank", NF stand für Neues Forum.

Jaeger glaubt, dass diese Zeit für ihn wie für Gauck immer die wichtigste ihres Lebens sein wird. Der Pfarrer sprach damals Sätze, die Jaeger nie vergessen wird. Wie jener auf einem Kirchentag in Rostock: "Wir würden bleiben, wenn wir gehen dürften." So was traute sich Gauck. "Es war ein unglaublicher Satz." Dann verbindet Jaeger den Gauck von damals mit dem von heute. "Er gilt als unsozial, weil er so sehr die Freiheitsrechte des Einzelnen betont." Aber der Grüne denkt an den Christenmenschen Gauck. "Ich bin mir sicher, dass er weiß, dass es Menschen gibt, denen es unmöglich ist, da unten allein rauszukommen." So kenne er ihn. "Dass man ihn anders sieht, das hat er sich auch selbst zuzuschreiben. Er hätte doch bisher die Wichtigkeit von sozialer Verantwortung in seinen Reden stärker betonen können." Der junge Weggefährte freut sich, dass er Gauck in der Bundesversammlung wählen kann.

Auch Heiko Lietz in Schwerin denkt an diesen 18. März, den Tag, an dem der Präsident gewählt werden soll. Er erinnert daran, wie vor 22 Jahren bei den Wahlen am 18. März für die Bürgerbewegung die Stunde der bitteren Wahrheit kam. "Die Bewegung darf nicht ein zweites Mal missbraucht werden", sagt Lietz. "Das passiert, wenn so getan wird, als ob einer für sie spricht, der längst abgekoppelt ist." Lietz überlegt, Wünsche an Gauck in einem Papier zu formulieren, vielleicht zusammen mit anderen. Er müsse das Soziale in seine Wirklichkeit aufnehmen. Es klingt, als ob Lietz den Faden zu einem verlorenen Freund sucht.

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