Streit um die Tagebücher:Frank gegen Frank

Tagebuch von Anne Frank

Anne Franks Tagebuch bei einer Ausstellung im Vatikan-Museum.

(Foto: SZ Photo)

Der Urheberschutz für den berühmten Augenzeugenbericht ist ausgelaufen. Zwei Institutionen sehen sich als die wahren Erben, nun ringen sie erbittert um die Rechte an dem Werk.

Von Thorsten Schmitz

Ich denke auch, dass sich später keiner für die Herzensergüsse eines 13-jährigen Schulmädchens interessieren wird." Diesen Satz findet man im Tagebuch von Anne Frank, dem jüdischen Mädchen aus Frankfurt, das 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Typhus gestorben ist. Sie hat sich geirrt. Gibt man ihren Namen bei Google ein, tauchen 206 Millionen Treffer auf. Zum Vergleich: Bei Angela Merkel erhält man 78 Millionen Einträge.

Das Tagebuch der Anne Frank ist eines der meistgedruckten Bücher der Welt, die Auflage liegt bei rund 30 Millionen Exemplaren, heißt es beim Anne-Frank-Fonds in Basel, der die Persönlichkeitsrechte der Familie Frank vertritt. Es ist Pflichtlektüre in vielen Schulen, wenn es um den Holocaust geht, obwohl in dem Buch über den Alltag der jüdischen Familie in einem Hinterhausversteck der Holocaust nur am Rande vorkommt.

Gehört ihr geistiger Nachlass niemandem oder gleich der ganzen Welt?

Annes Vater Otto Frank hat die Aufzeichnungen seiner Tochter zwei Jahre nach Kriegsende veröffentlicht. Sie hatte eine spontane Tagebuchfassung und eine nicht vollendete überarbeitete Fassung hinterlassen. Unter dem Titel "Das Hinterhaus" kam dann 1947 das von Otto Frank editierte Buch heraus. Dass die Gedanken seiner Tochter einmal zum Kanon der Weltliteratur zählen würden, "hätte ich nie für möglich gehalten", sagte er einmal.

Hannah Pick-Goslar ist einer der wenigen noch lebenden Menschen, die Anne Frank persönlich kannten. Die beiden waren Freundinnen im Amsterdamer Exil, und sie begegnete Anne im KZ Bergen-Belsen. Pick-Goslar ist 91 Jahre alt und lebt heute in Jerusalem. Sie ist eine religiöse Frau geworden und hält den Sabbat ein. Es wäre interessant, sagt sie, "zu erfahren, was Anne dazu sagen würde, dass sie auf der ganzen Welt so bekannt ist". Es gibt Theaterstücke, Kinofilme, Apps, T-Shirts, Postkarten, DVDs und ein Puppenhaus vom Versteck der Franks. Buddy Elias, Annes Cousin, hatte der SZ kurz vor seinem Tod vergangenes Jahr gesagt: "Anne Frank, das ist heute auch ein Business." Interessant wäre auch zu erfahren, was Anne Frank dazu sagen würde, dass über ihr Erbe ein bizarrer Streit ausgebrochen ist. Es geht darum: Wem gehört Anne Frank?

Yves Kugelmann vom Stiftungsrat des Anne-Frank-Fonds in Basel, der von Otto Frank gegründet wurde, sagt: "Anne Frank gehört niemandem."

Die niederländische private Anne-Frank-Stiftung, die das Anne-Frank-Haus in Amsterdams Prinsengracht 263 betreibt, ist aber der Auffassung, Anne Frank gehöre der ganzen Welt. In gewisser Weise gibt ihr die Schlange vor dem Haus, in dem sich Franks Familie zwischen Juli 1942 und August 1944 versteckt halten konnte, recht: Fast 1,3 Millionen Menschen besuchten das nahezu leere Anne-Frank-Haus, von dem der Fonds in Basel findet, es sei eine Wallfahrtsstätte geworden. Die Original-Manuskripte beider Tagebuchversionen gehören dem niederländischen Staat. Der leiht es dem Anne-Frank-Haus. Das wurmt den Fonds - und freut die Stiftung.

Der Fonds und das Museum in Amsterdam hatten stets eng zusammengearbeitet, jetzt wird nur noch über Anwälte miteinander kommuniziert und vor Gericht. Der Fonds in Basel ist der Ansicht, Anne Frank werde in Amsterdam ikonisiert, was Juden zutiefst fremd ist. Er drängte die Stiftung zudem auf die Herausgabe von Archivalien. Diese sollen künftig im Anne-Frank-Zentrum in Frankfurt ausgestellt werden.

Zum Streit um Anne Franks Erbe ist seit Jahresbeginn ein neuer Konflikt hinzugekommen. Seit dem 1. Januar 2016 sind die Urheberrechte an dem Tagebuch eigentlich abgelaufen. Wie in den meisten europäischen Ländern ist dies 70 Jahre nach dem Tod eines Autors der Fall. Zwei Franzosen stellten am 2. Januar Anne Franks Tagebuch frei zugänglich online, im niederländischen Original. Yves Kugelmann vom Stiftungsrat des Fonds, im Hauptberuf Chefredakteur der jüdischen Wochenzeitung Tachles, fürchtet nun eine publizistische Trivialisierung unter dem Label "Anne Frank" und ungenaue Zusammenfassungen. Der Fonds müsse sicherstellen, dass jetzt nicht alle Welt herumwildere in Anne Franks Tagebuch.

Mit einer überraschenden Argumentation versucht der Fonds außerdem, das Urheberrecht für weitere Jahrzehnte zu behalten. Otto Frank habe die gedruckte Version des Tagebuches kurz nach dem Zweiten Weltkrieg herausgegeben. Sie basiere auf den zwei sich überschneidenden, aber jeweils nicht komplett von Anne Frank ausgearbeiteten hinterlassenen Versionen des Tagebuchs. "In allen Ländern", lässt der Fonds auf seiner Internetseite wissen, "die der Anne-Frank-Fonds in dieser Hinsicht überprüfen ließ, bestätigen Experten, dass Otto Frank sich ein eigenes Copyright für diese Zusammenstellung erworben hat." Dies bleibe also "noch für mindestens 50, in vielen Ländern 70 weitere Jahre ab dem Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1980 gültig", heißt es da.

Eine textkritische Analyse des Buches kommt nun später als gedacht

Auch die Anne-Frank-Stiftung wurde von dem Coup des Fonds überrascht. Zusammen mit dem niederländischen Forschungsinstitut Huygens arbeitet sie seit fünf Jahren an einer textkritischen Analyse des Tagebuchs, die ursprünglich zum Auslaufen des Urheberrechts von Januar 2016 an veröffentlicht werden sollte. Der Direktor der Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam, Ronald Leopold, sagt, er bedauere die Funkstille zwischen ihm und dem Basler Fonds und dass dieser vor Gericht die Herausgabe von Archivalien erwirkt hat. Er sagt, er wisse noch nicht, wann die Forschungsergebnisse veröffentlicht würden. Dies werde aber "innerhalb des geltenden gesetzlichen Rahmens" stattfinden. Diesen sieht Leopold allerdings so: "Otto Frank ist nicht der Mitautor der Original-Tagebücher von Anne Frank. Anne Frank ist die einzige Autorin der Tagebuchfassungen A und B."

Den Zwist um Anne Frank kann das Mädchen selbst nicht mehr verfolgen. Aber schon als Jugendliche hat sie sich über die Erwachsenenwelt gewundert. "Ich finde es sehr seltsam", schrieb sie am 28. September 1942 in ihr Tagebuch, "dass erwachsene Menschen so schnell, so viel und über alle möglichen Kleinigkeiten Streit anfangen. Bisher dachte ich immer, dass nur Kinder sich so zanken und dass sich das später legen würde."

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