Streit um die Krim:Verantwortung aller Staaten

Seit Monaten streiten die Staaten über die Anerkennung der Krim-Annexion durch Russland. Doch das hilft den Menschen dort nicht. Viel wichtiger ist ein Blick ins Völkerrecht. Denn das sieht auch für eine Besatzung Rechte und Regeln vor.

Von Michael Bothe

"Die Annexion der Krim ist völkerrechtswidrig und wird nicht anerkannt." So tönt der Chor nicht nur westlicher Politiker. Auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat eine Resolution gefasst, dass die Änderung der Zugehörigkeit der Krim nicht anerkannt werden dürfe. Das deutsche Auswärtige Amt setzt das mit einer Warnung um: Die Krim gehöre zur Ukraine, sei aber zur Zeit unter russischer Kontrolle. Deshalb könne dort der konsularische Schutz deutscher Staatsangehöriger nicht sichergestellt werden. Von Reisen in das Gebiet wird abgeraten. Anerkannt haben den Beitritt der Krim zur Russischen Föderation nur vier Staaten: Afghanistan, Nicaragua, Kuba und Venezuela.

Also ist die Krim nach der Auffassung der überwiegenden Mehrheit der Staaten rechtlich gesehen ukrainisch geblieben. Sie wird aber faktisch von Russland beherrscht. Für diese faktische Beherrschung fremden Staatsgebiets hält das Völkerrecht ein eigenes Regelwerk bereit: das Recht der kriegerischen Besetzung. Das gilt immer dann, wenn eine Partei eines zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikts Gebiete des Gegners militärisch erobert und "besetzt", eine häufige Situation. Sie ist durch völkerrechtliches Gewohnheitsrecht, formuliert in der Haager Landkriegsordnung, und in weiteren wichtigen Einzelheiten in der IV. Genfer Konvention von 1949 geregelt.

Diese Regeln müssen drei unterschiedlichen Interessen gerecht werden und sie ausgleichen: denen der Bevölkerung des Gebiets, denen der Besatzungsmacht und denen des zeitweilig aus seinem Herrschaftsbereich verdrängten Staates. Erstens: Die staatlichen Aufgaben der Sicherung der Existenz der Bevölkerung müssen weiter erfüllt werden. Das ist eine Aufgabe der Besatzungsmacht. Sie muss dabei Grundrechte der Bevölkerung achten. Zweitens: Das Recht der Besetzung ist eine vorläufige Ordnung, die das Ergebnis des Konflikts nicht vorwegnehmen soll. Darum sind auch die Interessen des verdrängten Souveräns zu berücksichtigen. Darum, aber auch im Interesse der Bevölkerung, darf die Besatzungsmacht keine Loyalität der Bevölkerung fordern, etwa die Bevölkerung nicht zum Wehrdienst heranziehen. Drittens: Die Besatzungsmacht darf angemessene Maßnahmen zu ihrer Sicherheit ergreifen. Dieses Regelwerk hat sich bewährt, wenn seine Anwendung auch immer wieder auf Schwierigkeiten stößt, wie man an dem vielfältigen Streit um israelische Maßnahmen in den besetzten palästinensischen Gebieten weiß.

Kein internationales Gericht für die Krim

Bei der Krim besteht das Problem aber darin, dass die "Besatzungsmacht" sich gar nicht als Besatzungsmacht ansieht, sondern als rechtmäßiger Inhaber der Staatsgewalt, die Anwendung des Rechts der kriegerischen Besetzung also ablehnen wird. Dass unterschiedliche Staaten unterschiedliche Auffassungen über den rechtlichen Status eines Gebiets haben, kommt immer wieder vor. Ein Gericht, das zur verbindlichen Entscheidung eines solchen Streits zuständig wäre, gibt es nur in Ausnahmefällen. Für die Krim besteht keine solche Zuständigkeit eines internationalen Gerichts. Dennoch muss mit dem Streit praktisch umgegangen werden. Vor allem darf er nicht auf dem Rücken der Bevölkerung des Gebiets ausgetragen werden.

Darum gilt es, genau hinzuschauen, worin die Unterschiede zwischen einem gültigen Anschluss der Krim an die Russische Föderation und einer kriegerischen Besetzung praktisch bestehen und wie mit diesen Unterschieden umzugehen wäre. Die gute Nachricht zuerst: Die Grundrechte der Einwohner sind dadurch geschützt, dass in beiden Fällen für die Bewohner die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte gelten. Gleichgültig ob das Gebiet russisch ist oder besetzt, bei beiden rechtlichen Bewertungen können betroffene Personen ihre Rechte mittels des Beschwerdeverfahrens in Straßburg gegen die Russische Föderation verteidigen.

Wenn etwa das russische Strafrecht eine Kritik an der Annexion als Aufruhr und Hochverrat zu bestrafen sucht, dann wäre das eine Beschränkung der Meinungsfreiheit, die unverhältnismäßig wäre und darum über das nach der EMRK zulässige Maß hinausginge. Das Recht der kriegerischen Besetzung kennt aber auch Garantien, die im Menschenrechtsschutz nicht vorkommen. Den Krimtataren ist noch die Deportation durch die Sowjetunion im Gedächtnis. Eine erneute Deportation wäre auch eine Verletzung der EMRK.

Daneben verbietet das Recht der kriegerischen Besetzung auch den Transfer der eigenen Bevölkerung der Besatzungsmacht in das besetzte Gebiet. Mit solchen Transfers werden vollendete Tatsachen einer Landnahme der Besatzungsmacht geschaffen, was gerade verhindert werden soll. Die Regeln des Menschenrechtsschutzes verhindern solche Praktiken nur, wenn dadurch zusätzlich Menschenrechte verletzt werden, etwa durch Enteignungen zugunsten der Neubevölkerung.

Die Naturschätze des besetzten Gebietes dürfen nicht verbraucht werden

Das Recht der kriegerischen Besetzung verbietet, der allgemeine Menschenrechtsschutz verbietet nicht, dass der Inhaber der Hoheitsgewalt Beweise der Loyalität und Kooperation von den Bewohnern verlangt, allen voran die Leistung von Wehrdienst. Ein wichtiger Schutz für den aus seinem Herrschaftsbereich durch die Besetzung verdrängten Staat ist auch die Regel, dass die Naturschätze des Gebiets nicht verbraucht werden dürfen, sondern dass der Besatzungsmacht nur eine Art Nießbrauch zusteht. Wird im Schwarzen Meer Öl gefunden, so wäre die Ausbeutung durch Russland nach dem Recht der kriegerischen Besetzung wohl unzulässig, aber zulässig, wenn der Anschluss der Krim an Russland wirksam war.

Problematisch kann auch die Haltung dritter Staaten im Hinblick auf eine Politik der Nichtanerkennung sein. Würde etwa Deutschland den Zuständigkeitsbereich eines Konsulats in Russland einfach auf die Krim ausdehnen, so läge darin sicher eine Anerkennung der Annexion, was der Bundesrepublik nach ihrer Auffassung aber nicht nur politisch, sondern auch rechtlich verwehrt ist. Andererseits kann ein Konsulat, dem nur die Ukraine ein Exequatur erteilt hat, auf der Krim faktisch nicht arbeiten. Auf Dauer ist aber die so entstehende territoriale Lücke für konsularische Dienstleistungen, insbesondere für den Schutz deutscher Staatsangehöriger im Ausland nicht hinnehmbar.

Nichtanerkennung darf auch nicht bedeuten, dass Hoheitsakte der Besatzungsmacht, die wichtig für die Einwohner des betroffenen Gebiets sind, als nichtig behandelt werden. Das gilt nicht nur für die Registrierung von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen. Eine von dem nach russischem Recht auf der Krim zuständigen Gericht ausgesprochene Scheidung muss als gültig angesehen werden. Selbst die Erteilung von Pässen durch die De-facto-Gewalt wird hingenommen.

Von der ukrainischen zur russischen Vorwahl

Praktische Probleme bestehen auch für bestimmte internationale Regelungssysteme wie Post, Telefon und Verkehr. Die russische Telekom-Verwaltung hat bereits die bisherige ukrainische Vorwahl +380 durch die russische +7 ersetzt, wogegen die Ukraine protestiert hat. Bei solchen Problemen pflegt sich allerdings der gesunde Menschenverstand technischer Zusammenarbeit, der auf Fakten Rücksicht nimmt, durchzusetzen.

Sowohl das Recht der kriegerischen Besetzung als auch der völkerrechtliche Menschenrechtschutz enthalten Regeln, deren Verletzung nicht nur die jeweils betroffenen Individuen oder Staaten angeht. Es sind Normen, die auch wichtige Werte der internationalen Gemeinschaft schützen. Deshalb sind dritte Staaten berechtigt, auf die Einhaltung zu bestehen. Russland kann solchen Staaten nicht entgegenhalten, es ginge sie nichts an. Es gibt eine Verantwortung aller Staaten für die Einhaltung von Grundwerten der internationalen Gemeinschaft durch alle anderen Staaten. Eine solche Verantwortung muss freilich mit Augenmaß wahrgenommen werden. Die Krim sollte ein Test hierfür sein.

Der Autor ist emeritierter Professor für Völkerrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

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