Strategie:Kalter Kaffee

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Die US-Militärs haben andere Sorgen als russische Raketen: Sie interessiert vielmehr, was Wladimir Putins Armee sonst noch anrichten könnte.

Von Nicolas Richter

In Washington versucht man sich oft, aber selten erfolgreich an der Putinologie. Der frühere Präsident George W. Bush behauptete, er habe in die Seele des russischen Präsidenten Wladimir Putin geschaut. Sein Nachfolger Barack Obama spekulierte über die Bedeutung der lümmelhaften Körperhaltung Putins. Und das Pentagon diagnostizierte sogar einmal aus der Ferne, Putin leide unter einer Form des Autismus. Nun hat der gute Mann angekündigt, 40 neue Interkontinentalraketen anzuschaffen, und in Washington fragt man sich wieder einmal, welche verschlüsselte Botschaft Putin denn damit aussenden will.

US-Außenminister John Kerry reagierte zunächst einmal besorgt. Er warnte vor einer Rückkehr in die Logik des Kalten Kriegs. Allerdings ließ Kerry auch seine Zweifel daran erkennen, ob es Putin wirklich ernst meint. Vielleicht wolle Russland nur seine Verhandlungsposition aufbessern, mutmaßte Kerry, weil es besorgt sei über neue militärische Maßnahmen der Nato. Am Wochenende waren Pläne des Pentagon bekannt geworden, schweres militärisches Gerät wie etwa Panzer in baltischen und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten zu lagern. Die Waffen würden für bis zu 5000 US-Soldaten reichen. Die US-Regierung möchte damit signalisieren, dass sie ihre Nato-Verbündeten schützt, ohne aber gleich Soldaten zu stationieren.

Angst hat Washington eher vor neuer diplomatischer Erstarrung

Selbst wenn Putin neue Raketen anschaffen sollte - in Washington hat man andere, realistischere Sorgen als die vor einem russischen Atomangriff. Die erste Sorge gilt der Möglichkeit, dass Putin die hybride Kriegsführung ausweitet, wie sie derzeit im Osten der Ukraine stattfindet, unter anderem dadurch, dass Russland örtliche Rebellen unterstützt. Sicherheitsexperten in Washington warnen davor, dass Putin das Gleiche im Baltikum versuchen könnte, dass er also Teile der russischstämmigen Bevölkerung in Estland bewaffnen und zu einem Aufstand anstiften könnte. Interkontinentalraketen spielen in einem solchen Szenario der schleichenden Destabilisierung russischer Nachbarn keine Rolle.

Die zweite Sorge gilt dem Zustand der amerikanisch-russischen Beziehungen. Wenn Kerry vor dem Kalten Krieg warnt, dann meint er damit auch die diplomatische Erstarrung, die für diese Zeit viel typischer war als kriegerische Handlungen. Die USA brauchen Russland, als Partner im Atomstreit mit Iran sowie im Kampf gegen den "Islamischen Staat" in Syrien und im Irak. Deswegen hat sich Kerry jüngst auch mit Putin getroffen, obwohl er andererseits daran arbeitet, die westlichen Sanktionen gegen Russland aufrechtzuerhalten.

Im Übrigen sind es die USA selbst - und nicht Russland -, die das strategische Gleichgewicht zwischen beiden Ländern zuerst gestört haben: Im Jahr 2002 verließen sie den ABM-Vertrag, der den Einsatz von Raketenabwehrsystemen begrenzte. Die USA wollten sich damit den juristischen Freiraum schaffen, um eine Raketenabwehr aufzubauen und sich dadurch zu immunisieren gegen mögliche Angriffe aus Russland, vor allem aber aus sogenannten Schurkenstaaten wie Iran oder Nord-Korea. Offensichtlich spielte Putin jetzt darauf an, als er sagte, seine neuen Raketen könnten selbst die besten Abwehrsysteme überwinden.

© SZ vom 18.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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