Strafverfolgung von NS-Verbrechern:Richter, Mörder und Gehilfen

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1958 fand in Ulm der erste Prozess zur Judenvernichtung statt. Die Causa kam nur aus Zufall in Gang - einer der Mörder verhielt sich zu dreist.

Franziska Augstein

Der Ulmer Einsatzgruppenprozess, der am 28. April 1958 begann, war eine Sensation. Erstmals stand die Vernichtung der Juden im Mittelpunkt eines großen Prozesses, und die Urteile, die am 29. August 1958 ergingen, prägten die weitere Rechtsprechung.

Der Prozess führte dazu, dass in Ludwigsburg die "Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen" eingerichtet wurde. Der Prozess und seine Folgen zeigen, wie die öffentliche Meinung zu den NS-Verbrechen stand. Sollten die demonstrierenden Achtundsechziger bloß Nachzügler gewesen sein, die aussprachen, was die meisten schon wussten?

Empörend fanden viele Kommentatoren es damals, dass der Prozess nur aus Zufall in Gang kam. Wäre der ehemalige Polizeidirektor von Memel nicht so dreist gewesen, es wäre wohl gar nichts geschehen.

Doch Bernhard Fischer-Schweder, der als Angehöriger des "Einsatzkommandos Tilsit" 1941 an der Abschlachtung von mehr als fünftausend litauischen Juden beteiligt gewesen war, erschlich sich 1953 unter falschem Namen den Leitungsposten in einem Flüchtlingslager.

Als er in Verdacht geriet und sein Amt aufgeben sollte, strengte er unter eigenem Namen einen Arbeitsgerichtsprozess gegen das Land Baden-Württemberg an. Deshalb konsultierten zuständige Beamte die Akten der amerikanischen Dokumentationszentrale in Nürnberg, die Fischer-Schweder und andere Männer schwer belasteten.

Erschossen, erschlagen, ertränkt

Ulmer Richter und Staatsanwälte, die nun hätten tätig werden müssen, weil Fischer-Schweder in ihrer Stadt lebte, wollten sich da aber nicht einmischen. Der Richter a. D. Klaus Beer, der damals als Referendar am zuständigen Gericht arbeitete, schreibt in seinen Erinnerungen "Auf den Feldern von Ulm", die Staatsanwälte seien "nicht bereit oder fähig" gewesen, sich ihrer Pflicht anzunehmen.

Drei Juristen war es zu danken, dass es überhaupt zum Prozess kam, drei Einzelkämpfern, einstigen Hitlergegnern, die sich gegen die herrschende Stimmung in der westdeutschen Justiz zusammenschlossen: dem Stuttgarter Generalstaatsanwalt Richard Schmid, seinem Nachfolger Erich Nellmann und dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Da Ulms Richter mit dem Prozess nichts zu tun haben wollten, gelang es den dreien, einen Stuttgarter Richter hinzuzuziehen: Edmund Wetzel.

Diese vier haben sich um die deutsche Justiz mehr als verdient gemacht. Der Prozess erschütterte die Öffentlichkeit. Vom Tod im Gas, sagt Beer, habe man gewusst, nicht aber davon, dass Tausende erschossen wurden, nachdem sie für sich selbst Massengräber hatten ausheben müssen; dass Frauen und Kinder totgeschlagen wurden, weil man Munition sparen wollte; dass Kleinkinder vor den Augen ihrer Mütter in Teichen ertränkt wurden.

Ausreden durch Goebbels-Aussage ausgehebelt

Ein SS-Mann hatte zwei mit Spaten bewaffnete Juden in einen Kampf auf Leben und Tod gehetzt; zum Spaß hatte er ihnen in Aussicht gestellt, der Sieger dürfe am Leben bleiben.

Mit drei beliebten Ausreden wurde im Ulmer Einsatzgruppenprozess aufgeräumt: Die Behauptung, die Angehörigen der Einsatzgruppen hätten mit ihrem Leben dafür zahlen müssen, wenn sie einen Mordbefehl verweigerten, wurde durch Zeugenaussagen widerlegt. Die Behauptung, man habe sich unter "Befehlsnotstand" befunden, tat das Gericht schlauerweise auch mit einem Hinweis auf Joseph Goebbels ab.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Propagandaminister Goebbels zum "Befehlsnotstand" schrieb und wie die Ulmer Urteile ausfielen.

Der hatte 1944 die Bombardements der Alliierten im Völkischen Beobachter kommentiert: "Es ist in keinem Kriegsgesetz vorgesehen, dass ein Soldat bei einem schimpflichen Verbrechen dadurch straffrei wird, wenn er sich auf seine Vorgesetzten beruft, zumal wenn dessen Anordnungen im eklatanten Widerspruch zu jeder menschlichen Moral und jeder internationalen Uebung der Kriegsführung stehen."

Folglich, so schloss das Ulmer Gericht, war auch die Behauptung nicht haltbar, die Angeklagten hätten sich in einem "Verbotsirrtum" befunden, hätten also nicht ahnen können, dass das Abschlachten Tausender Zivilisten, Frauen, Kinder und Säuglinge eingeschlossen, auch im Krieg keine gerechtfertigte Präventivmaßnahme sei.

Die zehn Angeklagten in Ulm wurden zu relativ milden Strafen zwischen drei und 15 Jahren Haft verurteilt. Ein konsternierter Journalist rechnete damals aus: Ein Tod wurde mit fünf Tagen Zuchthaus geahndet. Nicht wegen Mordes wurden die zehn Männer verurteilt, sondern nur wegen Beihilfe. Dies, obwohl einige von ihnen sich in stolzer Pose bei den Exekutionen fotografieren ließen.

Mochten diese Bilder noch so deutlich belegen, wie gern die Täter ihre Opfer hingemetzelt hatten - das Gericht war dennoch nicht in der Lage, gegen die gängige Auffassung zu urteilen, derzufolge Hitler, Göring, Himmler und Heydrich für die Vernichtung der Juden die Verantwortung trugen. Aus dieser Sicht waren historisch und juristisch alle übrigen Mörder lediglich Gehilfen (während die meisten Schreibtischtäter vor dem Gesetz als unschuldig galten).

Der tapfere Generalstaatsanwalt Fritz Bauer brachte es dann zuwege, dass 1963 ein neuer Prozess begann: der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Die Anklagevertreter wollten nun nicht in dieselbe Falle tappen wie die Ulmer Richter: Mord sollte Mord genannt werden.

"Auschwitz", besser: was dort geschah, wurde als eine Tat behandelt. Hatte einer beim Töten mitgemacht, war er im Bund mit Hitler und Konsorten. So plädierte die Staatsanwaltschaft unter Fritz Bauer - sie kam aber damit nicht durch, weder vor dem Frankfurter Gericht noch 1969 in der Revision vor dem Bundesgerichtshof.

Die Mehrheit wollte den Schlussstrich

Viele Leute, unter ihnen auch namhafte Historiker, sind heute der Meinung, die Westdeutschen hätten sich schon seit dem Ende der fünfziger Jahre der Vergangenheit ihrer Nation gestellt. Dafür scheint eine Umfrage von 1958 zu sprechen: 54 Prozent der Befragten waren dafür, dass die Justiz sich auch anderer NS-Täter annehmen solle.

Doch von Dauer waren diese Meinungen nicht. Als ein Student namens Reinhard Strecker, unterstützt von Kommilitonen und dem SDS, 1959 eine Ausstellung über "Ungesühnte Nazijustiz" plante, waren die Rechtspolitiker sämtlicher Parteien dagegen. Und als zur Zeit des Auschwitz-Prozesses eine neue Umfrage angestellt wurde, war die große Mehrheit der Westdeutschen dafür, es solle ein Schlussstrich gezogen werden - "Schlussstrich": So nannte man das damals schon.

Die Leute hatten die Berichte vom Ulmer Einsatzgruppenprozess mit Erschrecken gelesen oder gehört - nun meinten sie, dass es damit sein Bewenden haben müsse. Mehr "Vergangenheitsbewältigung" war nicht gewünscht. Weder in der Öffentlichkeit noch von Seiten der Justiz.

Fritz Bauer hat "seinen" Prozess mit Unterstützung nur ganz weniger durchfechten müssen. 1965 wurden eher milde Urteile erlassen. Das Argument des "Befehlsnotstands" galt in einigen Fällen als entlastendes Moment.

Mit zweierlei Maß

Die verbrecherischen NS-Richter, die per Gesetz 1961 mit guten Pensionen in den Ruhestand verabschiedet wurden, ihre Schüler, die Ärzte, Politiker und Beamten, die ihre Karrieren nach dem Untergang des Dritten Reichs mühelos hatten fortsetzen können: Sie prägten das bundesdeutsche Klima der frühen sechziger Jahre. Prügelstrafen zu Hause und in der Schule waren legal, Homosexualität stand unter Strafe. Der "Kuppelei" machte sich verdächtig, wer zuließ, dass ein Mann und eine Frau sich allein in einem privaten Raum aufhielten.

Die damalige Bundesrepublik war ein ausgesprochen autoritärer Staat. Die mangelnde Befassung mit der NS-Zeit war wahrlich nicht das einzige, was den Studenten jener Jahre zu schaffen machte. Aber sie war ein Zündfunken, der die Studenten über ihre eigenen Freiheitsbedürfnisse hinaus bewegte.

Die Allianz zwischen Studenten und etablierten links-liberalen Bürgern wurde auch durch den gemeinsamen Zorn über die hanebüchen joviale Art befestigt, mit der die herrschenden Kräfte das Vergangene vergangen lassen sein wollten. In diesem Punkt waren rechtsstaatlich denkende Politiker mit den "langhaarigen Chaoten" eines Sinns.

Fritz Bauer plädierte dafür, das Morden in Auschwitz als eine Tat zu behandeln und alle, die dabei wissentlich halfen, zur Verantwortung zu ziehen. Die Ironie der Geschichte will es, dass seine Idee einige Jahre später vom Bundestag zum Gesetz gemacht wurde. Da ging es aber nicht um nationalsozialistische Massenmörder, sondern um die RAF.

Als 1985 über den Mord an Generalbundesanwalt Buback abermals verhandelt wurde, genügte es dem Gericht, dass ein Angeklagter Mitwisser war: Er wurde wegen Mordes verurteilt. Wie vielen NS-Tätern wäre das widerfahren, wenn in ihren Fällen genauso verfahren worden wäre? Im Hinblick auf die RAF ergab sich im Nu, was zuvor verhindert worden war. Das besagt einiges über den politischen Zustand der BRD in den sechziger Jahren.

© SZ vom 19.5.2008/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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